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Der Schwarzmaler
Nichts ging mehr an diesem Tag vor fast fünf Jahren. Austin Kleon saß an seinem Schreibtisch, starrte auf das weiße Word-Dokument vor seinen Augen und war verzweifelt. Der damals 22-Jährige hatte gerade das College in Texas beendet und nahm an Creative-Writing-Seminaren teil, um seinem Traum vom Schriftsteller-Dasein näher zu kommen. Eine hartnäckige Schreibblockade setzte seinem Traum ein jähes Ende und ließ ihn doch auf ganz andere Weise wahr werden. Austins Blick wanderte vom Schreibtisch Richtung Papierkorb, wo er auf die zerknüllte Ausgabe der New York Times stieß. Darin gab es im Überfluss, was der junge Texaner so dringend benötigte: Worte, angeordnet zu mal längeren und mal kürzeren Sätzen.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Austin, der neben dem Schreiben immer auch eine Schwäche fürs Zeichnen hatte, griff zu einem schwarzen Filzstift und umkreiste ein Wort, das ihm besonders gefiel. Dann noch eins und noch eins. Den Rest der Seite malte er großflächig schwarz. Am Ende blieb ein kurzer Text übrig – Austins erstes „Blackout-Poem“. Was als spontane Verzweiflungstat begann, hat sich mittlerweile zu einer kleinen Erfolgsstory entwickelt. Im April diesen Jahres erschien eine Sammlung von Austins besten Zeitungsgedichten beim renommierten Verlag Harper Perennial, bei dem auch bekannte englischsprachige Autoren wie Thomas Pynchon veröffentlichen. Austin ist der erste Schriftsteller mit eigenem Gedichtband, ohne dass auch nur ein einziges Wort davon aus seiner eigenen Feder stammt. In Anlehnung an ein Zitat von Saul Steinberg, dem berühmten Karikaturisten und Illustrator des New Yorker, bezeichnet er sich selbst als „Schriftsteller, der zeichnet“.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Bis heute verwendet der mittlerweile 27-Jährige als Grundlage für seine „Blackout Poems“ ausschließlich die New York Times – anfangs aus Bequemlichkeit, da er die Times bereits abonniert hatte. Heute schätzt er an der Zeitung vor allem die aufgeräumte Typographie und den interessanten Schreibstil. „Auf ein bestimmtes Ressort festgelegt bin ich nicht, besonders mag ich aber den Sport wegen der vielen Ortsnamen und der Alltagssprache, die Trainer und Spieler verwenden. Im Kulturteil findet man oft Geschichten über Personen, der Wirtschaftsteil bietet Stoff für die abstrakteren Gedichte“, erzählt er im Gespräch mit jetzt.de. Ein bestimmtes Thema hat Austin nie im Kopf, wenn er ein Gedicht beginnt. Er vermeidet es unter allen Umständen, die Zeitung in traditioneller Weise zu „lesen“, sondern lässt sich von einzelnen Worten oder Phrasen leiten, die ihn intuitiv ansprechen. Das erklärt die immense thematische Breite der Gedichte – manche beschreiben simple Alltagssituationen oder klingen wie dadaistische Werbeslogans, andere sind bissige Kommentare zur US-amerikanischen Konsumgesellschaft („The United States claims a gargantuan ass and Walmart is an excellent place to look at it“). Der Stil reicht dabei von lustig und ironisch bis hin zu pathetischem Kitsch. Austins spielerischer Umgang mit der Zeitung ist keineswegs neu. Ganz im Gegenteil gab es bereits vor 250 Jahren, als die Zeitung in ihrer bis heute bekannten Form gerade geboren war, ähnlich unbedarfte Herangehensweisen. Austin berichtet von einem gewissen Caleb Whitefoord. Der Weinhändler und Nachbar von Benjamin Franklin, des späteren Gründervaters der Vereinigten Staaten, hatte die Angewohnheit, die Zeitung nicht spaltenweise, sondern von links nach rechts zu lesen. So gelangte er zu Ergebnissen, die oft eine tiefere Wahrheit über die aktuellen Geschehnisse offenbarten als die eigentlichen Artikel: „Parlamentsversammlung am Dienstag / Bücher geschlossen, nichts getan.“ Ähnliche Ansätze verfolgten später Avantgarde-Künstler wie Tristan Tzara mit seinen Dada-Gedichten oder der Schriftsteller William Burroughs mit dem Cut-Up-Verfahren – Literatur, die auf der Montage bereits vorhandener Texte basierte. In einer avantgardistischen Tradition sieht sich Austin aber nicht: „Die meiste avantgardistische Lyrik, die ich gelesen habe, ist Schrott und hat keinen Bezug zum Alltag. Ich möchte, dass man meine Gedichte lesen kann wie etwas, das aus meinem eigenen Mund kommen könnte.“
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Austin verfolgt einen Weg, der in anderen Kunstformen schon lange selbstverständlich ist. Musik entsteht aus dem Sampling anderer Musik, Maler greifen Motive berühmter Gemälde auf und erstellen ihre eigene Version. Die Kontroverse um Helene Hegemann und ihren zum Teil aus fremdem Material zusammengebastelten Debütroman „Axolotl Roadkill“ zeigt, dass in der breiten Öffentlichkeit noch immer eine überholte Vorstellung von kreativer Leistung herrscht. Was Austin jedoch von Hegemann unterscheidet, ist seine entwaffnende und kokette Ehrlichkeit: „Ich bin weder ein besonders talentierter Dichter noch Zeichner. Für mich ist Kreativität die Fähigkeit, zwei oder mehr bereits existierende Ideen zu nehmen und sie zu einer neuen Idee zu kombinieren, die zuvor noch niemand hatte. Kreativität ist Collage.“ So scheut Austin auch nicht davor zurück, seine Methode in Workshops ausführlich zu erläutern. Nach einer Demonstration des Meisters bekommt jeder Teilnehmer am Ende Stift und Zeitung in die Hand gedrückt und darf sich an einem eigenen „Blackout Poem“ versuchen. Nicht wenige Teilnehmer der Workshops werden so eine Alternative zu Kreuzworträtseln und Sudokus kennengelernt haben.
Vor einem möglichen Ende des bedruckten Papiers ist Austin Kleon nicht bange: „John Lennon hat einmal gesagt: Selbst wenn du mir eine Tuba gibst, werde ich dir etwas daraus hervorbringen. Jeder wirklich gute Künstler wird in der Lage sein, sich den neuen Technologien anzupassen.“ Auch auf dem iPad hat Austin seine Methode bereits ausprobiert. Dazu öffnet er einen beliebigen New York Times-Artikel per App, macht einen Screenshot, öffnet ihn mit Photoshop und legt eine neue Ebene darüber. Mit Hilfe des Stift-Werkzeugs umkreist er dann die ausgewählten Worte und malt den Rest schwarz – genau so, wie er es vor fünf Jahren das erste Mal getan hat.
Mach es wie Austin: Nimm die jetzt.de-Seite aus der Süddeutschen Zeitung vom 28. Juni und male sie schwarz. Schicke uns ein Bild deiner Seite an muetze@jetzt.de und wir drucken die schönsten Kunstwerke nächsten Montag auf der jetzt.de-Zeitungsseite in der Süddeutschen Zeitung.
Text: julian-jochmaring - Fotos: privat