Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Das Leiden der Anderen

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Vielleicht wäre es besser gewesen, sie hätte sich gleich von ihm getrennt. Damals, vor drei Jahren. An dem Abend, an dem eigentlich alles erst beginnen sollte. An dem Abend, an dem sie zusammengekommen sind. Als er sagte: „Vor gar nicht langer Zeit, habe ich versucht, mich umzubringen.“ Evas Freund Max ist krank, seelisch krank. Er leidet unter regelmäßig wiederkehrenden Depressionen. Max’ Freundin Eva ist das egal. Zumindest war es früher so. An ihrem ersten Abend mit Max – da war es das rasende Herz, das den Verstand binnen Sekunden in die Flucht schlug. Sind Depressionen nicht einfach heilbar? Könnte man sie gemeinsam nicht sogar besser bekämpfen? Und überhaupt: wo sind sie jetzt eigentlich gerade? Verliebte denken in Momenten. Sie vergessen, dass aus Sekunden Jahre werden. Sie vergessen, dass man Krankheitsbilder nicht einfach von der Wand nimmt und ins Altpapier wirft. Eva ist jetzt Mitte zwanzig, hat vor kurzem ihr Medizinstudium abgeschlossen. Momentan promoviert sie an einem der bekanntesten Forschungsinstitute in Deutschland. Die Vorgänge in Max Kopf könnte sie genau erklären. Bei einer Depression ist nicht etwa die Seele krank. Es sind die vielen Nervenbahnen im Gehirn, die plötzlich anders und unzuverlässiger arbeiten als üblich. Ihnen fehlen die Botenstoffe. Die Gehirnzellen können sich untereinander nicht mehr verständigen – Max nimmt dann seine Umgebung nur noch ungeordnet wahr. Man könnte auch sagen, er verliert seinen eigenen Willen.

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Depressive wie Max können nachts nicht mehr schlafen, sie haben keine Lust mehr zu essen, sie verlieren den Tatendrang, im schlimmsten Fall sogar den Sinn ihres Daseins auf dieser Welt. Wie krank er eigentlich war, merkte Max gar nicht, als er beschloss, so nicht mehr leben zu wollen. Es war seine Mutter, die damals den Notarzt rief. Heute ist es Eva, die mit Max zusammen wohnt. Sie kennt die Nummer des Rettungsdienstes – nur für alle Fälle. Depressionen schleichen sich gerne von hinten an. Und plötzlich überfallen sie einen. Vor allem Männer zwischen zwanzig und dreißig Jahren. Manchmal erscheinen sie aus dem Nichts, bei einigen Erkrankten waren schon Vater oder Mutter depressiv. Oft kann auch Überarbeitung krank machen. Die genauen Entstehungsursachen von Depressionen kennt niemand so genau. Vermutlich ist es ein Zusammenspiel aus genetischer Veranlagung und akutem Stress, das bei empfindsamen Menschen eine psychischen Krankheit auslösen kann. Bei Max war es der Leistungsdruck. Ein sehr guter Schüler kommt an eine sehr gute Uni und erkennt, dass seine Mitstudenten ebenfalls sehr gut sind. Einser-Abiturienten unter sich. Ehrgeiz auf engstem Raum. Es wird verglichen, gestichelt und Tag und Nacht gelernt. Während die Kommilitonen vom Ehrgeiz gepackt werden, schlägt bei Max die Depression durch. Im dritten Semester versucht er, sich zu erhängen. Wenn Max heute vor dem Computer sitzt oder stundenlang fernsieht, wenn er nicht mehr mit ihr spricht und sich nicht mehr berühren lässt, wenn er seine schon fertige Masterarbeit einfach nicht abgeben will – dann weiß Eva, dass Max wieder in seinem depressiven Käfig fest sitzt. In letzter Zeit an zwei Tagen die Woche. Trotz regelmäßiger Psychoanalyse Eva weiß dann einfach nicht mehr weiter. Sie fühlt sich hilflos, sie ist traurig und irgendwie auch sehr alleine. Eva kommt in seinen depressiven Phasen nicht mehr durch zu Max. Es herrscht dann plötzlich Funkstille – kein Kuss, keine Umarmung und auch kein Aufschreien kann sie durchbrechen. Es ist wie ein stummes Warten vor grauer Gefängnismauer – während sich Max dahinter verliert. Es dauert eben, bis ein Depressiver vollständig geheilt ist. Das sagen die Ärzte. Sie sagen auch, dass nicht jede Behandlungsmethode sofort anschlägt. Und, dass regelmäßige Therapien oft Jahre lang weitergeführt werden müssen, um Rückfälle zu vermeiden. Herbert Pfeiffer, Chefarzt für Psychiatrie am Isar-Amper-Klinikum in München hat beobachtet, dass es vor allem die jungen Beziehungen sind, die unter dem großen Druck einer psychischen Krankheit zerbrechen. Ehepaare können die durch eine Depression ausgelöste Beziehungskrise oft besser meistern als junge Pärchen: „Im Alter hat man mehr Lebenserfahrung, mehr Geduld, mehr Kraft,“ sagt Herbert Pfeiffer. Wo die herkommen soll? Das ist die Frage der Fragen, auf die auch Eva gerne eine Antwort wüsste. Der erfahrene Arzt sagt dann: „Sie brauchen unbedingt gute Freunde.“ Ihren neuen Arbeitskolleginnen hat Eva von Max Krankheit nichts erzählt. Was sollen sie auch sagen und was würden sie vielleicht hinter ihrem Rücken denken. Eigentlich weiß es nur Evas beste Freundin. Und natürlich ihre Eltern. Was es nicht unbedingt einfacher macht. Evas Mutter ist gegen die Beziehung. Bei jedem Telefonat rät sie ihrer Tochter zur Trennung. Eva ist ihr nicht böse. Die Mutter will sie eben schützen. Vielleicht ja zu Recht. Eva könnte eines Tages selber krank werden. Aus Sorge um die Gesundheit von Max. Oder andersherum: Aus Wut über seine Krankheit. Sehr vielen Menschen, die mit depressiven Partnern zusammen leben, ergeht das schließlich so. Manche verzweifeln an der eigenen Ohnmacht, andere verfallen in blinden Aktionismus, treiben ihren kranken Freund von Therapie zu Therapie, von einer Krankenstation in die nächste. Eva kennt diese Frauen. Sie besucht seit Frühjahr eine Selbsthilfegruppe für Angehörige psychisch kranker Menschen. Im Internet fand sie die Telefonnummer. Eine schon ältere nette Dame lud sie zur Gesprächsrunde ein. Bleiben. Oder gehen und die Krankheit gewinnen lassen? Lange wird sie nicht mehr bleiben, sagt sie. Eva ist mit Abstand das jüngste Mitglied der Gruppe. Eigentlich ist es nur eine Frage, die Eva zu den Treffen treibt. Eine einzige Frage, die sie den anderen dann doch nicht laut zu stellen traut: Soll ich mit Max zusammenbleiben? Oder anders gesagt: Darf ich meinen kranken Freund deshalb verlassen, weil er eben krank ist? Die anderen – das sind längst verheiratete Männer und Frauen. Das ist die Mutter eines schizophrenen Kindes, das ist der Vater eines selbstmordgefährdeten Jungen. Es sind Menschen, die das Versprechen, in guten wie in schlechten Zeiten für einander da zu sein, in guten Zeiten abgegeben haben. Wer sich hier regelmäßig trifft, will wissen, wie der Alltag mit einem depressiven Menschen funktioniert. Eva ist am „ob überhaupt‘ interessiert. Manchmal hilft das Zuhören der besten Freundin. Manchmal das Aufschreiben ihrer wirr kreiselnden Gedanken. Manchmal würde Eva dann gerne im Mittelalter leben. Da gab es keine Depressionen. Die Menschen hatten andere Sorgen. Frauen wie sie waren ungebildet. Sie wurden nicht nach ihrer Meinung gefragt, sie durften nichts denken und vor allem mussten sie nichts entscheiden. Eva hält diese Frauen für glückliche Menschen. Sie könnte natürlich aufstehen und gehen. Sie könnte Schluss machen mit Max’ Depressionen. Max kann das nicht. Sie würde ihn im Stich lassen. Sie würde wegrennen. Sie würden beide verlieren. Die Krankheit gewinnen lassen. Und es gibt ja auch die schönen Tage, die noch schöneren Abende. Es gibt so etwas wie Verantwortung für den Freund und die Gewissheit, dass Depressive für den Kampf gegen die Krankheit Unterstützung brauchen. Wäre da nur nicht die Sache mit dem Grenzen setzen. Diese Abhängigkeit von seinen wöchentlichen Stimmungsschwankungen. „Wenn es Max gut geht, geht es mir auch gut,“ sagt Eva. Heißt im Umkehrschluss: Wenn es Max schlecht geht, reißt er Eva mit in die Tiefe. Eva liebt Max. Sie will keinen anderen. In seinen depressiven Phasen muss sie trotzdem permanent an die Zukunft denken. Eine Zukunft ohne Perspektive, denkt sie dann. Sie sieht Kinder, sie sieht Erfolg im Beruf, sie sieht einen Mann, der ihr den Rücken stärkt. Sie sieht Max an – und der blickt stumm ins Leere. Eva will später in einem renommierten Labor arbeiten, am besten im Ausland. Sie will einen Job machen, den vor ihr vor allem Männer inne hatten. Sie will hoch hinaus – und hat Angst, Max eines Tages nur noch im Rückspiegel zu sehen. Sie die Starke, er der Schwache. Was, wenn es Eva ist, die Max permanent unter Druck setzt? Eva hasst diese Selbstvorwürfe. Sie sollen weggehen. Eva sagt: „Ich bin an einem Punkt, an dem ich mich ganz dafür oder ganz dagegen entscheiden muss.“ Sie meint Max. Und die Frage, ob Liebe grenzenlos sein kann.

  • teilen
  • schließen