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„Ämm, das sind meine Eltern . . .“
Immer Ende Dezember siehst du die beiden alten Menschen wieder, die dich gemacht haben – nur gut, dass die meisten eurer Familienrituale dabei hinter verschlossenen Türen stattfinden. Damit du das auch gebührend schätzen kannst, haben wir für dich die vier wichtigsten Situationen analysiert, in denen deine Eltern öffentlich in dein Leben treten. 1. Abfahrt ins Schullandheim Es gehört offenbar so: Das Höchste, was die siebte Klasse zu bieten hat, beginnt ganz unten – an der Busschleife vor der Schule, morgens um halb acht Uhr an einem Montag. Du wirst an diesem besonderen Tag von deinem Vater im Kombi dorthin gebracht, obwohl du die Reisetasche locker selber tragen könntest. Dein Vater lässt es sich aber nicht nehmen, direkt vor dem Bus zu parken, dir die Tasche bis an die offene Bustür zu tragen und sich dann ganz ungezwungen von dir zu verabschieden – mit einer Emotionalität, die dir eher neu ist. Aber schließlich wart ihr auch noch nie eine Woche lang getrennt, wie er den Umstehenden mehrmals versichert. Dass er bei dieser Gelegenheit auch das mit der Zahnspange sagt, ist ja noch okay, aber dass deine Klasse (und die Deppen aus der Parallelklasse) jetzt auch wissen, dass deine Mutter dir Durchfalltabletten eingepackt hat, ist, du ahnst es, deiner weiteren sozialen Entwicklung eher hinderlich. Leider kann der Bus dann nicht sofort abfahren, weil immer noch mehr Kombis mit Eltern eintreffen, die als großes Plaudergrüppchen die Bustüren blockieren und den Lehrern auf die Schulter klopfen. Alle zehn Sekunden stürmt ein Elternteil in den Bus und ruft: „Tabea? Die Christine hat Binden, falls du welche brauchst, ich habe gerade mit ihrer Mutter gesprochen!“ Während du auf deinem Bussitz hockst und von deinem Nachbar in die Seite geschlagen wirst, fällt dir einiges auf. Zum Beispiel, dass deine schwarze Reisetasche mit der Aufschrift Surfin’ Fun bei weitem nicht das schlimmste Gepäckstück ist, sondern dass einige mit den malvenfarbenen Schrankkoffern ihrer Eltern anrollen. Zum anderen fällt dir auf, dass anscheinend jeder Eltern hat. Sogar der Thorsten mit dem Schlagring! Leider auch Sophie, die du die nächsten sieben Tage nur beinahe küssen wirst. Ihre Eltern sind die einzigen, die in Tracht aus einem Jeep steigen und ihre Mutter ist die Einzige, die schon vor der Abfahrt des Busses heult. Das ist ja schon fast wieder versöhnlich. Als der Busfahrer endlich Gas gibt und die winkenden Eltern verschwunden sind, hast du einen der wichtigsten Momente des Erwachsenwerdens hinter dich gebracht.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
2. Der Abiball Zeit ist vergangen und sie spielte eindeutig gegen die Eltern. Immer weniger hatten sie in deinem Schulleben zu sagen und auch immer weniger von allem verstanden. Schon in den letzten Monaten hast du dich kaum noch abgemeldet und deine Mutter hat sogar die ewige Nörgelei mit der schmutzigen Wäsche sein gelassen, damit du in Ruhe lernen kannst. Irgendwie hast du es jetzt also doch geschafft und alle sind froh. So froh, dass dein Vater sich sogar ein neues Jackett kaufen lässt, nur für den Abiball. Im Gegensatz zur Schullandheim-Abfahrt sind sie deswegen aufgeregter als du und verkomplizieren die Sache. Dein Vater lässt die teuren Ballkarten in der Küchenschublade liegen, deine Mutter kriegt auf der Fahrt einen Fußkrampf, und muss noch mal zurückchauffiert werden, um andere Schuhe anzuziehen. Vor Ort bist du abermals von einigen Eltern überrascht, weil manche dieser Anhängsel schon wie veritable Großväter aussehen. An eurem Tisch fassen sich deine Eltern wieder, dein Vater staucht den Kellner zusammen, weil das Pils nicht richtig eingeschenkt ist und deine Mutter fragt, warum eigentlich nicht du die Abiturrede hältst? Außerdem musst du ihr jeden Vorbeigehenden mit vollem Namen, charakterlichen Eigenheiten, Berufsplan und Beziehungsstatus nennen. Immerhin ist es aber nicht dein Vater, der die Stufenschönheit mit dem Spruch „So hübsch und klug, da kann sich mein Sohnemann ’ne Scheibe abschneiden!“ angräbt. Später am Abend, wenn die Jacketts über den Stuhllehnen hängen und sich die ersten Mitschüler schon für immer verabschiedet haben, wirst du auf einem Rundgang zufällig wieder an eurem Tisch vorbeikommen, wo deine alten Eltern alleine sitzen. Dein Vater studiert mit Lesebrille die Abizeitung und deine Mutter streicht die Menükarte glatt, um sie aufzubewahren. Sie lächeln dich an und sagen, dass sie jetzt bald gehen werden und dass es schön war. Ein guter, trauriger Moment ist das. Leider hast du gerade jetzt dafür überhaupt keine Zeit.
3. Auf WG-Besuch So sehr Kind warst du ja schon lange nicht mehr. Gerade hat dein Vater angerufen und ins Telefon gebrüllt, dass die „Autobahn frei ist“ und sie deswegen in drei Stunden bei dir wären. Um endlich dein neues Leben zu besichtigen, in der Stadt, in die du ja leider gezogen bist, weil sie angeblich die beste Fakultät für dein Fach bietet. Du hattest deinen Eltern zwar schon vor Tagen am Telefon erzählt, dass es gerade in der WG ein bisschen schwierig sei und ihr auch „umbauen“ würdet und deswegen ein „ziemliches Chaos“ wäre. Aber das hat deine Eltern in bester Ausfluglaune nicht mal auf die Idee gebracht, ihr Übernachtungskommando wäre nicht ganz erwünscht. Also hast du vorsorglich schon einen WG-Bewohner ausquartiert und mit beiden Händen dieses haarige Ding aus der Dusche geholt, das seit Wochen den Abfluss verstopft. Jetzt, da deine Eltern kurz bevor stehen, fällt dir aber auf, dass das nicht reichen wird. Deine Matratze auf einer Europalette, die Whiskyflaschensammlung und das tellergroße Brandloch auf dem Teppich dürften genügen, um deine Mutter in ein stummes, anklagendes Fragezeichen zu verwandeln. Du kaschierst hektisch und kaufst beim Bäcker nebenan noch Plundergebäck für alle. Auf dem Rückweg fällt dir ein, dass ja auch eure Kaffeemaschine kaputt ist, aber zu spät, da stehen sie schon vor der Tür. Dein Vater hat dir einen Werkzeugkoffer mitgebracht, deine Mutter schenkt dir eine Zimmerpflanze, die in deinem Zimmer sofort anfängt zu welken. Sie sind so aufgedreht, dass sie gar nichts über den komischen Geruch sagen, stattdessen fängt deine Mutter gutgelaunt mit dem Abwasch an, während dein Vater die Heizung repariert. Natürlich willst du sie davon abhalten, wirst aber vom begeisterten dritten WG-Bewohner mit einem Bodycheck daran gehindert. Abends geht ihr in ein Restaurant essen, in das du nie wieder gehen wirst, genauso wie du nie wieder diesen albernen Dom in der Stadtmitte betreten wirst. Auf wundersame Weise finden deine Eltern alles ganz fürchterlich schön. In der Nacht dann hörst du das altvertraute Schnarchen deines Vaters, der auf deiner Europalette liegt und stellst fest: So seltsam das alles ist, es macht dir gar nichts aus. 4. Mama im Büro Deine Eltern siehst du jetzt etwa noch dreimal im Jahr und jedes Mal kommen sie dir mehr geschrumpft und zerknittert vor. Jetzt ist deine Mutter wegen der Beerdigung einer entfernten Verwandten in deiner Stadt und könnte dich doch am nächsten Tag von der Arbeit abholen! Dann lädst du sie noch zum Essen ein. Mittlerweile kennst du nämlich auch Restaurants, so schön, dass deine Mutter Daheim allen davon erzählen wird. Als der Pförtner bei dir durchklingelt und – eine halbe Stunde zu früh und sehr förmlich – „Ihre Frau Mama“ meldet, ist es wieder da, dieses längst vergessene Gefühl: Seine Eltern zu präsentieren ist wie mit einem Operationskittel durch die Fußgängerzone zu laufen. Jederzeit können die Anderen Einblick in intime Dinge kriegen. Aber jetzt kannst du nicht anders, als ihr noch schnell dein Büro zu zeigen. Die Kollegen benehmen sich dabei vorbildlich, an den zuckenden Mundwinkeln kannst du aber ablesen, dass sie sich dringend etwas zurufen müssen, sobald du aus der Tür bist. Das liegt vermutlich nicht nur daran, dass dich deine Mutter ständig mit einem drolligen Kosenamen in Mundart anspricht. Zufällig trefft ihr auch deinen Geschäftsführer auf dem Flur – er dienert nach alter Schule und deine Mutter ist davon viel mehr beeindruckt, als sie es später von deinem schneidigen Firmenwagen sein wird. Sie bedankt sich umgehend bei ihm, dass „Sie es mit meinem Jungen versuchen“ und gemeinsam schauen dich die beiden für eine Sekunde lang an, als hättest du ihnen viel Kummer gemacht. Deinen Kollegen wünscht deine Mutter zum Abschied noch „Viel Erfolg für ihre Arbeit – und gutes Schaffen“, dann bugsierst du sie nach draußen. Der Pförtner, der sonst nicht mal den Kopf hebt, salutiert und kennt sogar deinen Namen. Vor der Tür hakt sich deine Mutter stolz ein und genießt den Augenblick. Und dann sagt sie: „Hast du keine Mütze dabei?“
Text: max-scharnigg - Illustration: Katharina Bitzl