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Flucht in die Freiheit?

Tareq ist 2016 mit 19 Jahren vor dem Krieg im Irak nach Deutschland geflohen.
Foto: Hannah Dürken

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Tareq stockt mitten im Satz, schaut mit dunklen Augen in den Himmel. Sonst hält kaum einer inne, als ein tief fliegendes Flugzeug den Münsteraner Hafen für einen Moment in Fluglärm taucht. In Tareqs Gesicht hingegen verrutscht das Lächeln, die Lachfältchen verschwinden kurz. Dann senkt er den Kopf, fährt sich mit der Hand durch die schwarzen Haare, die an den Seiten kurz geschoren sind. „Die Geräusche kenne ich noch aus meiner Kindheit“, sagt er. „Wir haben oft im Keller gesessen, als die Flugzeuge kamen. Ich hatte große Angst, meine Mutter auch. Da war ich sechs Jahre alt und ich habe das heute immer noch im Kopf. Wir mussten alle Fenster dunkelschwarz streichen, damit die Flugzeuge uns nicht sehen. Da saßen wir dann gefangen im Dunkeln.“

Mit Blick auf das Wasser im Hafen entspannen sich Tareqs Züge. Das leichte Grinsen, das sein normaler Gesichtsausdruck zu sein scheint, kommt zurück. Hier in Deutschland habe er keine Angst, sagt er, auch nicht davor, seine Meinung zu sagen und seine Geschichte zu erzählen. Gegen den kühlen Frühlingswind zieht er seine dunkle Steppjacke enger um seinen Körper und geht los in Richtung Hafenplatz. Er läuft durch Münsters Hansaviertel und erzählt vom Krieg in seiner Heimat, vom Terror des sogenannten „Islamischen Staates“ (IS) und von seiner Flucht, durch die er Freiheit gefunden hat. Doch er erzählt auch davon, dass die Flucht ihm eine wichtige persönliche Freiheit genommen hat – und dass er darum sogar darüber nachdenkt, zurück in den Irak zu gehen.

„Im Irak hat man Angst um die Sicherheit, auch heute noch“

Aber von vorne: Tareq Jamal ist 2016, mit 19 Jahren, aus dem Irak nach Deutschland geflohen. 2003, als er sechs Jahre alt war, bombardierten die USA seine Heimat, um den Machthaber Saddam Hussein zu stürzen. Die USA begründeten dies mit einem angeblich drohenden Angriff mit Massenvernichtungswaffen durch den Irak – eine Behauptung, die später widerlegt wurde. Der Irakkrieg dauerte nur wenige Monate, doch zur Ruhe gekommen ist das politisch und konfessionell tief gespaltene Land seitdem nicht: Terroranschläge, ein immer wieder aufflammender Bürgerkrieg zwischen Schiiten und Sunniten, Gewalttaten. 2014 wurden dann große Teile des Landes von der Terrormiliz IS eingenommen, auch Tareqs Heimatstadt Baschiqa im Nordirak. Der IS verfolgte besonders die Mitglieder der ethnisch-religiösen Minderheit der Jesiden, der auch Tareq angehört. Die Terroristen töteten viele jesidische Männer und versklavten ihre Frauen. Die Vereinten Nationen stufen die Verbrechen gegen die Jesiden als Völkermord ein. Die Entwicklungen sorgen im Land bis heute für die Angst vor einem weiteren Bürgerkrieg. Nach Schätzungen der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ sind seither 1,2 Millionen Menschen vor den Kämpfen auf der Flucht. Tareq ist einer von ihnen. 

„Im Irak hat man Angst um die Sicherheit, auch heute noch“, erzählt er, als er beim Spaziergang in Münster zielstrebig am Kino zur Kanalbrücke abbiegt. Seit fünf Jahren wohnt Tareq hier. Er hat Deutsch gelernt und macht bald sein Abitur. Danach will er in Münster Informationstechnik studieren. Er hat viel erreicht und ja, er fühlt sich heute frei. Aber bis dahin war es ein langer Weg.

„Um nach Deutschland zu kommen, musste ich in ein kleines Boot“, erinnert er sich. In Iraks Hauptstadt Bagdad beantragte Tareq 2015 seinen Reisepass, damit er von Erbil im Nordirak in die türkische Hauptstadt Istanbul fliegen konnte. „In der Türkei waren noch mehr Menschen aus dem Irak und auch aus Syrien“, erinnert er sich. „Und es gab Männer, die waren wie Makler und haben gehandelt: ,Ich habe ein Angebot für dich. Für 1500 bringe ich dich von der Türkei nach Griechenland.‘“ Eines der Angebote nahm Tareq an und fuhr so von Izmir an der türkischen Küste zur griechischen Insel Chios. Zusammen mit 200 Menschen auf einem viel zu kleinen Boot hatte er Todesangst: „Ich habe geweint und geweint. Ich frage mich bis heute, wie ich das tun konnte – was hätte meine Familie gemacht, wenn ich gestorben wäre?“ Sein Blick streift über den Kanal, über das Wasser, als er die Kanalbrücke hinauf geht. Von den Erinnerungen an die Überfahrt hat Tareq sich nie befreien können – trotz aller Freiheit und Sicherheit, die er in Deutschland gewonnen hat. 

Zehn Tage verbrachte er damals auf der griechischen Insel, bis er mit einer Fähre auf Festland übersetzte. Über die Westbalkanroute reiste er mit Bussen, Zügen und zu Fuß durch Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien und Österreich, bis er nach sechs Wochen Deutschland erreichte. „Sieben Kilo“, bei den Worten zieht Tareq die Brauen hoch, „habe ich abgenommen, bis ich hier angekommen bin.“ Dann lacht er kurz, wie um die Dramatik aus der Situation zu nehmen. Seitdem sei Deutschland seine zweite Heimat, sagt er am Ende der Brücke: „Ich bin diesem Land immer dankbar, denn kaum ein Land auf der Welt hätte das Gleiche für mich getan.“ 

Er floh vor dem Krieg in seiner Heimat und der Perspektivlosigkeit – alleine, ohne seine Familie

Die Monate nach seiner Ankunft seien für ihn eine sehr schwere Zeit gewesen, sagt Tareq, als er am Kanal entlang läuft. Auch heute falle es ihm nicht leicht. Er habe die Bilder von der Flucht immer wieder im Kopf, Bilder von Kindern etwa, die unterwegs ertrunken sind: „Ich erinnere mich an alles, was passiert ist. Dann bekomme ich große Kopfschmerzen und manchmal weine ich. Dann komme ich hier zum Kanal.“

Manchmal kämen auch die Erinnerungen an die Zeit vor der Flucht hoch, an den Irakkrieg und die Bomben. Auch das Haus von Tareqs Familie in Baschiqa wurde bei einem Angriff zerstört. Bei dem Gedanken daran reibt er sich mit einer Hand durchs Gesicht und zieht die Nase hoch. Trotzdem blieben er und seine Familie in der Nähe seiner Heimatstadt – bis der IS die Region einnahm und sie noch weiter in Richtung Norden fliehen mussten. „Dort hatten wir eine richtig schwere Zeit. Zu zehnt haben wir in einer Wohnung mit drei Zimmern gewohnt, für ein Jahr.“ Wegen der Flucht mussten er und seine Geschwister damals die Schule verlassen. Er habe große Angst vor der Zukunft gehabt, erzählt Tareq, und daraufhin beschlossen, vor dem Krieg in seiner Heimat und der Perspektivlosigkeit nach Deutschland zu fliehen – alleine, ohne seine Familie.

Auf der zweiten Kanalbrücke angekommen, greift Tareq in der Tasche seiner Jeans nach seinem Handy. Er entsperrt es und zeigt ein Foto, auf dem ihn seine beiden Schwestern angrinsen. Die mit den üppigen, schwarzen Locken, Aumaya, mache gerade ihr Abitur, die mit den glatten Haaren, Sumaya, studiere Elektrotechnik. Tareq hat auch zwei Brüder, sie heißen Marwan und Hakam. Sie alle sind jünger als Tareq. „Wir sind zusammen aufgewachsen und wie Freunde“, erzählt er und grinst breit. „Meine Kindheit war fast perfekt.“ Er erinnert sich an Familienfeste: „Wir haben unsere Traditionen gemeinsam mit Freunden gefeiert.“ Zu seinen Eltern habe er auch immer ein sehr gutes Verhältnis gehabt. Hier in Deutschland vermisst Tareq seine Familie mehr als alles andere. Als er entschied zu gehen, konnte er sie nicht dazu bewegen, mitzukommen: „Sie hatten zu große Angst.“ Und das, obwohl er ihnen nicht mal erzählte, wie gefährlich die Flucht tatsächlich sein würde. Beim Abschied habe er versucht, sich seine eigene Angst nicht anmerken zu lassen. „Meine Mutter und meine Oma haben mich lange umarmt und geweint. Als mein Vater, mein Bruder und mein Cousin kamen, war ich sehr, sehr traurig. Aber ich musste mich normal verhalten, damit sie sich nicht noch mehr Sorgen machen.“

Auf dem Weg durch das Hansaviertel kauft Tarek an einem Kiosk Kaffee. Er denkt über das Wort Zuhause nach. „Die Freiheit und Gesellschaft hier sind für mich Zuhause“, sagt er. Vor allem Meinungsfreiheit und Gleichberechtigung fehlen ihm im Irak. Er deutet mit dem Kinn zurück zum Kiosk, wo er von einer Frau bedient worden war: „So wie hier könnten Frauen in der Heimat nicht im Laden arbeiten, weil die Männer ihnen das verbieten.“ Zwischen seinen Brauen erscheint jetzt eine tiefe Falte. „Das finde ich richtig scheiße.“ Es mache ihn wütend, dass Frauen im Irak so benachteiligt würden. Das beginne schon bei der Kleidung: „In unserem Dorf kann meine Schwester zwar solche Kleider tragen wie in Deutschland. In Mossul, wo sie studiert, geht das aber nicht. Da muss sie sich immer verhüllen, auch im Sommer.“ Das Hauptproblem sei der große Einfluss, den die Religion auf die Politik habe, weshalb den Frauen eine unterwürfige Rolle wie selbstverständlich zugewiesen werde. Auch die Meinungs- und Pressefreiheit sei von der Politik stark eingegrenzt. Amnesty International berichtet, dass Medienschaffende im Irak damit rechnen müssten, tätlich angegriffen, entführt, eingeschüchtert, schikaniert und mit dem Tode bedroht zu werden. 

„Wenn ich sie nicht bald treffen kann, muss ich zurückgehen“

„Hier in Deutschland bin ich frei von Angst, ich kann sein, wie ich bin“, sagt Tareq. „Weil ich glauben, sagen und machen kann, was ich will.“  Dann verschwinden seine Lachfältchen noch einmal. „Aber ich kann meine Familie nicht vergessen.“ Zuhause sei für ihn vor allem der Ort, an dem seine Familie ist, „egal wo das ist“, sagt er auf dem Weg zurück zum Hafen und stemmt die Hände tief in die Hosentaschen. Er zögert bei den nächsten Worten. „Wenn ich sie nicht bald treffen kann, muss ich zurückgehen.“ Tareq hat zwar mittlerweile einen unbefristeten Aufenthaltsstatus in Deutschland – aber er hat keinen Pass, mit dem er verreisen kann. Genauso wenig können seine Eltern und Geschwister zu ihm kommen und ihn hier, in seinem Leben in Freiheit, besuchen. Dass er für ein besseres Leben die Nähe zu seinen Liebsten opfern musste, das lässt ihn gefangen zurück.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Text ist in Zusammenarbeit mit der Katholischen Journalistenschule ifp entstanden. Die Autorin des Textes ist dort Stipendiatin und hat diesen Beitrag innerhalb eines gemeinsamen Projektes mit jetzt recherchiert und verfasst. Die im Rahmen des Projektes entstandenen Beiträge findest du auf der Themenseite „jetzt: Freiheit“.

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