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"Messies haben tausend Tricks auf Lager"

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Sieben Mulden und eine Leiche ist ein Dokumentarfilm. Die Mutter des Züricher Journalisten Thomas Haemmerli stirbt im Alter von 70 Jahren an einer Herzattacke im Badezimmer ihrer Wohnung. Mehrere Tage liegt sie auf den beheizten Fliesen, ehe ihr Tod entdeckt wird. Thomas Haemmerli und sein Bruder Erik entdecken den verwesten Leichnam und das zweite Leben der Mutter: Sie war ein Messie. Sie lebte in einer vermüllten Wohnung und hortete Zeitungsauschnitte aus vierzig Jahren in Ordnern, hatte Lebensmittel aus den Neunzigern in der Küche und stapelte das Familiensilber in Kartons im Garten. Von nichts konnte sie sich trennen. Als die Söhne ausmisten und sieben Muldencontainer brauchen, um dieses Erbe zu entsorgen, lesen sie Gerichtsunterlagen über die Scheidung der Eltern, lernen aus Briefen von der Hassliebe der Mutter zu deren Mutter und sehen rückwirkend, wie das einstige Familienglück der Mutter zerbrochen ist. Wie sie zum Messie wurde. Ein herber Film mit Leichengeschmack, mit dem Geschmack der Vergangenheit. Er wirft die Frage auf: Verdammt, was wissen wir über unsere Eltern? Herr Haemmerli, Sie haben einen krassen Film gedreht. Das sollte auch nichts harmloses sein. Wie sind die Reaktionen? Der Film polarisiert sehr. Ein Viertel des Publikums findet ihn grauenhaft, dreiviertel finden ihn richtig lustig und mögen ihn, fast alle werden durchgeschüttelt. Der Film ist ja in der Schweiz schon länger gelaufen und in Kanada und dann in Australien im Fernsehen. Man kann in unserem Blog die Debatten nachlesen, in denen die Leute unter anderem mir und meinem Bruder vorwerfen, wir hätten unsere Mutter nicht gerettet. Aber Angehörige von Messies erklären in dem Blog auch: 'Das geht gar nicht! Messies warten nicht darauf, dass jemand kommt und sagt, wir ziehen dich aus deinem Dreck'. Sie waren vier Wochen in der Wohnung und haben aufgeräumt. Was ist die stärkste Erinnerung? Die alten Nudeln? Der Gestank? Die Bilder mit Kofi Annan, der als junger Diplomat in Genf auf der Hochzeit Ihrer Mutter tanzt? Für mich waren es die Fotos aus der Vergangenheit. Die lösen viel in mir aus.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Thomas Haemmerli und ein Fundstück in der Wohnung der Mutter. Vom ersten Besuch in der Wohnung an filmen Sie. Warum? Ich habe immer eine Kamera dabei. Vor zwei Jahren hatte ich einen schweren Autounfall in Argentinien und man hätte mir fast den Arm amputieren müssen. Nach zehn Minuten habe ich gedreht und auch als ich beim Arzt auf dem Tisch lag, habe ich mit dem anderen Arm über den Kopf die Operation gedreht. Es ist ein Reflex, der hilft, Extremsituationen durchzuhalten. Zudem war ich lange TV-Journalist – oft muss man dabei Leute überreden, sie drehen zu dürfen. Ich fand, dass ich das auch auf mich anwenden muss. Ich verstehe mich in einer aufklärerischen Tradition. Man muss Sachen genau anschauen, damit man ein vernünftiges Verhältnis dazu kriegt. Hätten Sie denn Ihre Mutter nicht wirklich aus der Wohnung retten müssen? Nein. Sehen Sie, mein Bruder hatte viel Kontakt zu meiner Mutter und sie hat ihn trotzdem nie in die Wohnung gelassen. Sie hatte wie alle Messies tausend Tricks auf Lager, das zu kaschieren.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Die Mutter in jungen Jahren. Welcher Art sind die Tricks? Mein Bruder versucht etwa, ihr die Einkaufstaschen hoch zu tragen und sie sagt: 'Ich muss schnell zum Nachbarn.' Messies müssen immer dringend was tun. Es war auch nicht leicht, sie anzurufen. Sie hat keinen AB, kein Handy, kein Email. Sie sagte oft: 'Ich lade euch ein!' Es ist aber immer was dazwischen gekommen. Man überlegt sich nicht soviel dazu! Sie war außerdem eine sehr intelligente, energische Frau, die sich Einmischung in ihr Leben verbeten hat. Ihr Bruder wirkt im Film zorniger als Sie. Warum? Er ist emotionaler und hatte mehr mit der Mutter zu tun. Für ihn war der Tod noch stärker besetzt als für mich. Sie scheinen auch mehr Abstand zur Szenerie zu haben. Ich hatte auch nur drei bis vier Mal pro Jahr Kontakt zu meiner Mutter. Aber vielleicht hat der Abstand auch mit meiner journalistischen Rangehensweise zu tun - die wiederum nur bedingt funktionierte. Abends haben ich und mein Bruder uns immer haufenweise Wein reingekippt, um das zu verarbeiten. Hatte denn niemand den Hauch einer Ahnung, was in der Wohnung ihrer Mutter geschieht? Niemand! In ihrer Wohnung hat ja sogar ein Untermieter gelebt! Im Aufgang der Wohnung ging es rechts zum Untermieter und links in den Teil, in dem meine Mutter gewohnt hat. Trotzdem ist der Untermieter aus allen Wolken gefallen! Die Wohnung meiner Mutter war wahnsinnig gut isoliert und in den Garten hat man nicht reingesehen. Er wusste von nichts.

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Illustration: Julia Schubert

Als die Familie heil war: Beim Grillieren. Wie wurde sie so? Das habe ich mich oft gefragt. Meine deutsche Großmutter in München hat eine genau so vermüllte Wohnung hinterlassen. Vielleicht liegt es in der Familie? Auf der nächsten Seite: Thomas Haemmerli über Familiengeheimnisse


Was erzählt der Film über das Wesen von "Familie"? Dass Familienfilme und –fotos zum Verlogensten gehören, das es auf der Welt gibt. Weil sich dahinter oft der große Horror verbirgt. Wir haben während der Räumung zum Beispiel herausgefunden, dass unser tatsächlicher Großvater ein italienischer Comte ist, weil Oma den vermeintlichen Opa betrogen hat.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

So sah es in der Münchner Wohnung der Großmutter aus. Zu wieviel Prozent wussten Sie vor der Räumung über das Leben der Eltern Bescheid und wieviel wissen Sie heute? Ins Blaue gesagt wusste ich vorher vielleicht 15 Prozent, jetzt weiß ich 75 Prozent. Tragen wir alle solche Dunkelziffern des Nichtwissens mit uns umher? Ja, aber ich war ein Spezialfall. Ich stiess mit 16 zur radikalen Linken in der Schweiz, war lange im Ausland - diese bourgeoise Familie hat mich einfach nicht interessiert. Aber spätestens wenn die Eltern sterben, kommt das Thema mit viel Wucht zurück. Was lernt man als Sohn über das Eltern-Kind Verhältnis – nach solch einer Geschichte? Eltern sind eine Institution, die man nicht los wird. Auch wenn man glaubt, man sei sie losgeworden. Man will die Liebe der Eltern erringen, man will sich abgrenzen, whatever. Wenn man aber die Sachen der Eltern durchgeht, schrumpfen sie auf menschliches Normalmaß.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Die Hauptfiguren im Film: Erik (links) und Thomas Haemmerli. Wer lebt heute in der Wohnung? Eine Nachmieterin. Ich habe ihr mal eine Karte in den Briefkasten gesteckt, aber nie von ihr gehört. Im Film sagt am Anfang der Mann von der Reinigungsfirma, das Leichenwasser würde einen halben Meter in den Boden sickern und man würde den Gestank nie rausbekommen. Der Vermieter hat sogar eine Spezial-Chemiefirma angestellt, um den Gestank rauszubekommen. Aber das ging auch nicht. Letztendlich musste man den Boden raushacken und neu betonieren. Wie lange lag Ihre Mutter im Bad? Maximal zehn Tage. Der Gestank hat sich in den vier Räumungswochen nicht verflüchtigt? Nur ein bisschen. Das ist auch wichtig zu wissen, um zu verstehen, wie mein Bruder und ich reagieren. Wenn Leute mir vorwerfen, wir zeigten nicht genug Pietät, dann muss man sich das einfach vorstellen – Tag für Tag in einem gigantischen Chaos arbeiten, dazu dieser unglaubliche Geruch . . . Haben Sie beide getrauert? Ja. Aber in einem Film will man nicht zwei Menschen, die man nicht kennt und die keine Schauspieler sind belämmert in einer Ecke sitzen sehen. Haben Sie den Dokumentationszwang eigentlich von ihrer Mutter? Erschrocken bin ich, dass viele Messies vom perfekten Archiv träumen. Das ist bei mir genauso. Das könnte in diese Richtung gehen. Aber es gibt Hoffnung: Die Digitalisierung führt dazu, dass das nicht mehr ein räumliches Problem ist.

Text: peter-wagner - Fotos: messiemother.com

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