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Wie sich ein Leben mit Hochsensibilität anfühlt

Foto: Verena Wittmann

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Foto: Verena Wittmann

Vor 33 Jahren verwendete die Forscherin Elaine N. Aron zum ersten Mal den Begriff Hochsensibilität. Er beschreibt die Eigenschaft, dass das Gehirn äußere Reize stärker als gewöhnlich wahrnimmt. Egal ob Gerüche, Geräusche, Bilder, Geschmäcker oder Ertastbares. Doch die genauen Auswirkungen und die Gründe dafür sind noch relativ unklar. Zu schwammig die Grenzen, zu jung das Forschungsfeld. Doch fast jeder fünfte Mensch soll hochsensibel sein. Maria Anna Schwarzberg ist einer von ihnen und erzählt in ihrem Podcast und in ihrem Buch „Proud to be Sensibelchen“ von ihrem Leben als Hochsensible.

jetzt: Maria, was bedeutet denn Hochsensibilität genau?

Maria Anna Schwarzberg: Zunächst einmal: Hochsensibilität ist eine Charaktereigenschaft und keine Krankheit. Bei Hochsensiblen funktioniert das Gehirn ein bisschen anders. Die Sinneskanäle sind permanent offen, alle Reize gehen ungefiltert durch. Dadurch nimmt man insgesamt sehr viel mehr von seiner Umgebung wahr. Das kann natürlich auch belastend und überfordernd sein.

Wie sieht denn so eine Überforderung aus?

Hochsensibilität äußert sich bei jedem Menschen anders. Was aber sehr viele Hochsensible kennen, ist die auditive Überreizung. Also wenn viele Menschen sich unterhalten, dazu auch noch Musik oder Straßenlärm kommt, dann tritt eine richtige Überforderung ein. Was auch sehr viele Hochsensible berichten, ist die Unverträglichkeit gegenüber Stimulanzien. Also Alkohol, Drogen, Rauchen, Zucker in rauen Mengen – da ist bei den meisten sehr schnell eine Grenze erreicht, auf die sie auch sehr körperlich reagieren, zum Beispiel mit Kreislaufproblemen.

„Die Vermutung, dass ich anders bin, hat mich mein ganzes Leben begleitet und geplagt.“

Aber Hochsensible reagieren auch stärker auf die Gefühle anderer Menschen.

Man bemerkt sehr schnell, welche Grundstimmung in einem Raum herrscht und wie sich die Stimmung verändert. Den Ausdruck „Gefühle aufnehmen“ empfinde ich dabei als sehr esoterisch. Viel mehr ist es wie bei Sherlock Holmes, der über seine Sinneskanäle viel mehr wahrnimmt, eben auch kleine Veränderungen. Das Gehirn zieht dann sehr schnell Rückschlüsse über den Gemütszustand anderer.

Wie hast du rausgefunden, dass du hochsensibel bist?

Die Vermutung, dass ich ein bisschen anders bin, hat mich eigentlich mein ganzes Leben begleitet und beschäftigt. Ich dachte, dass anders gleichzeitig auch falsch bedeutet und ich mich deshalb anpassen muss. Letzten Endes hat das alles dann dazu geführt, dass ich mit 25 einen  Burn-out hatte.

Wie hatte sich dieses Anderssein angefühlt?

Ich habe schon als Kind dazu geneigt, sehr viel zu überdenken, Vergleiche anzustellen, die mir natürlich nicht geholfen, sondern nur geschadet haben. Ich habe überlegt, was machen andere anders, und was kann ich machen, um auch so zu werden. Als Jugendliche konnte ich nicht zwischen meinen Gefühlen und den Gefühlen anderer unterscheiden. Ich habe immer gedacht, dass alle das fühlen, was ich auch fühle. Wenn ich mich dann falsch gefühlt habe, dachte ich, auch andere würden mich so wahrnehmen.

Auditive Überreizung, starke Reaktionen auf Alkohol - wie bist du denn in deiner Jugend damit klargekommen?

Ich bin viel ausgegangen, habe Alkohol getrunken, obwohl es mir nicht gut getan hat und bin bis morgens weggeblieben. Eigentlich wollte ich abends am liebsten zu Hause sein, aber in mir kam dann immer die Frage: Was verpasse ich? Und was denken die anderen, wenn ich immer absage? Ich wollte um jeden Preis verhindern, dass ich außen vor bin. Deswegen bin ich trotzdem immer wieder mitgegangen.

„Ich habe nach dem Burn-out mein Leben sehr stark verändert“

Wie kam es letztendlich zu deinem Burn-out? 

Ich war Beamtin, habe Vollzeit gearbeitet und in meiner Freizeit nicht auf mich und meine Bedürfnisse Rücksicht genommen. Und plötzlich war mir alles zu viel. Es ging nicht mehr. Zum Glück hatte ich einen Hausarzt, der mich bei meinem Burn-out sehr schnell krankgeschrieben und zu einem Therapeuten geschickt hat und das nicht abgetan hat mit: Ach, junge Frau, Mitte 20, die fängt sich schon wieder. Er hat das Ausmaß erkannt. Monate später habe ich durch Zufall einen Artikel über Hochsensibilität entdeckt und mir bei jedem Wort gedacht: Das klingt doch nach mir. An sich war nichts davon so richtig neu, aber es hatte zum ersten Mal eine Begrifflichkeit. Ich wusste zum ersten Mal, dass ich nicht alleine anders bin, dass es noch viel viel mehr Menschen gibt, die das haben. Und es gab die Gewissheit: Hey, das ist keine schlimme Krankheit, du bist einfach nur sensibler gestrickt. Ich war sehr aufgeregt und vorfreudig, als ich mit dieser Erkenntnis in die Therapiestunde gegangen bin.

Aber an sich ist die Hochsensibilität kein Grund für eine Therapie?

Nein. Aber, ich halte es für wahnsinnig wichtig, dass man, wenn man sehr sensibel ist, sich dessen auch bewusst ist und achtsamer mit sich umgeht. Nicht so wie ich früher: Ich war einfach ein implodierendes Chaos, das gar nicht wusste, wohin mit sich.

Was hat sich denn nach dieser Erkenntnis für dich verändert?

Zuerst musste ich akzeptieren: Ich bin nicht laut und bunt und unter Menschen und bewege mich in super-coolen Kreisen, sondern ich bin ein Mensch, der eher Ruhe braucht, der gerne in der Natur ist, sich gern mit sich beschäftigt. Ich habe nach dem  Burn-out mein Leben sehr stark verändert und um das Wissen herum aufgebaut, dass ich einfach anders bin, als ich immer vorhatte zu sein

Und beruflich? Hast du gekündigt?

Ich habe mich selbstständig gemacht. Außerdem bin ich umgezogen. Ich habe lange und gerne in Hamburg gewohnt. Aber ich musste mir eingestehen, dass es mir dort einfach zu laut, zu voll, zu trubelig ist. Ich bin dann nach Magdeburg gezogen, das ist immer noch eine große Stadt, aber deutlich kleiner, deutlich ruhiger. Einfach entschleunigter. So habe ich ein paar Stellschrauben bewegt und mir ein Leben eingerichtet, in dem ich mich wohlfühle und nicht dauernd über meine Grenzen gehen muss. 

Würdest du sagen, dass der Burn-out letzten Endes sogar gut für dich war?

Für mich persönlich war das eine der schlimmsten Phasen in meinem Leben und dennoch bin ich froh drum, weil es mein Leben so stark zum Positiven verändert hat. Ich bin aber kein Fan davon, prinzipiell aus allem Scheitern einen Nutzen ziehen zu müssen. Es gibt viele Situationen, in denen man scheitert und man nicht viel daraus mitnehmen kann, außer, dass es eine richtig beschissene Zeit war. 

Fast jede*r Fünfte soll hochsensibel sein

Ist es schwieriger eine Beziehung zuführen, wenn man hochsensibel ist?

Egal welche Konstellationen sich ergeben – sensibel, nicht-sensibel – ist es immer wichtig, seine Bedürfnisse klarzumachen. Ich brauche zum Beispiel Ruhe, ich brauche Zeit für mich. Es hat nichts mit meinem Partner zu tun, wenn ich mich stundenlang zurückziehe, Musik höre und male. Ich brauche das. Wenn ich das klar kommuniziere, weiß mein Mann auch damit umzugehen. Genauso verhält es sich ja bei jedem anderen Paar. Jeder hat seine Bedürfnisse und in Beziehungen müssen von beiden Menschen diese Bedürfnisse in Einklang gebracht werden.

Was würdest du Menschen raten, die deinen Podcast hören oder dein Buch lesen und denen es so geht wie dir damals - also denken: Das hört sich ja alles nach mir an. 

Insgesamt schätzt man, dass circa 15-20 Prozent der Menschen hochsensibel sind, also könnte das recht gut sein. Ich würde ihnen auf jeden Fall dazu raten, sich intensiv mit sich auseinanderzusetzen. Gar nicht so sehr mit meiner Geschichte und meiner Interpretation dazu, sondern auf sich zu schauen. Ich habe mich früher fast gar nicht gekannt. Mittlerweile fällt es mir leicht mich zu beschreiben. Es würde jedem Menschen gut tun, sich zu fragen: Wer bin ich? Was will ich? Wo will ich hin? Was sind meine Träume? Wie kann ich mir mein Leben angenehm gestalten? Wir sollten unser Leben nach dem ausrichten, was wir brauchen und was uns gut tut und nicht nach dem, was man nach gesellschaftlichem Standard tun sollte. 

Dieser Text erschien zum ersten Mal am 1. September 2019 und wurde am 13. Oktober 2020 noch einmal aktualisiert.

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