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Wie es ist, einen Impfstoff gegen das Coronavirus zu testen

Illustration: FDE

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So richtig weiß niemand, was gerade in Lillys* Blut passiert. Sie nicht, ihr Freund Ludwig nicht und auch Dr. Arne Kroidl, der Studienleiter, weiß es nicht. In Lillys Blut könnten Teilchen schwimmen, die diese Pandemie endlich beenden oder zumindest zurückdrängen könnten. Die Flugzeuge und Aktienkurse abheben lassen – und Umarmungen wieder zu einer unverdächtigen Begrüßung machen könnten. Könnten. Um herauszufinden, ob das wirklich so ist, sitzen Lilly und ihr Freund Ludwig im November 2020 im Tropeninstitut der LMU München. Fast jeden Montag schauen sie jetzt auf die klinisch weißen Wände im Behandlungszimmer, hören das Neonlicht surren, und lassen sich jeweils vier Ampullen Blut abnehmen.

Lilly und Ludwig sind Proband*innen in der Curevac-Impfstudie.

Und damit ein kleiner Teil in einem weltweiten Wettrennen.

Mehr als 200 Impfstoffe werden derzeit entwickelt, zuletzt meldeten

mehrere Unternehmen Durchbrüche bei ihren Studien. Der Impfstoff der Firma Biontech steht wohl kurz vor der Zulassung. Bei Curevac, das in München testet, gehen die Studien trotzdem weiter. Denn um den weltweiten Bedarf zu decken, braucht es mehrere Impfstoffe. Und möglichst effiziente.

Wahrscheinlich konnten sich noch nie so viele Menschen auf ein

gemeinsames Ziel einigen. Und doch gibt es immer noch nicht

genug Menschen, die an den Studien teilnehmen wollen. Dafür

muss man sich schließlich einem Gefühl aussetzen, das die

Deutschen so fleißig aus ihren Leben herausbausparen wie kein

anderes: Unsicherheit. Niemand kann ganz genau sagen, wie die

Proband*innen auf den Impfstoff reagieren. Zwei Paare aus

München, eins frisch, eins schon lange verliebt, haben trotzdem

mitgemacht. Andere Pärchen schauen zusammen Netflix oder

trainieren für einen Marathon. Sie lassen sich einen nicht

zugelassenen Impfstoff spritzen. Was treibt sie dazu?

Lilly und Ludwig

„Ohne Ludwig hätte ich nicht teilgenommen“, sagt Lilly. Sie, 19,

lange blonde Locken, und ihr Freund Ludwig, 20, kurze blonde

Locken, sind bei ihrem ersten Check-up-Termin im Tropeninstitut

München. Sie trägt einen dicken Wollschal, er eine blaue

Funktionsjacke. Sie sehen aus, wie junge Menschen eben aussehen,

wenn sie gegen globale Krisen kämpfen: entschlossen und

wetterfest. Heute ist aber keine Fridays-for-Future-Demo. Heute ist

Montag, der Tag, an dem Lilly und Ludwig jetzt jede Woche gegen

das Virus kämpfen. Ludwig sitzt auf der Liege im

Behandlungszimmer und schaut zu, wie Lilly den linken Ärmel

ihres Wollpullis hochkrempelt. Der Studienleiter nimmt ihr Blut

ab. „Ich hatte die Idee mitzumachen,” sagt Ludwig. „Und ich war

sofort dabei“, sagt Lilly. Zuerst bekamen die beiden ein PDF. Auf

15 Seiten stand alles über den Studienablauf – und über mögliche Risiken. Es sind die üblichen Nebenwirkungen, die man von Grippeimpfungen kennt: Müdigkeit, Kopfschmerzen, Fieber. Es habe sie beruhigt, dass Ludwig das Gleiche fühlen würde wie sie, sagt Lilly. „Auch wegen der Nebenwirkungen.“

Vor einem Jahr haben sie sich kennengelernt. Im Bus zur

Einführungswoche zum Biologiestudium an der LMU München.

Erst haben sie zusammen „nur gelernt“. „Dann hat sich das halt so

entwickelt“, sagt Lilly. Sie sagt das mit der Selbstverständlichkeit,

mit der Erstsemester so was eben erleben: die erste Liebe, die erste

eigene Wohnung, neue Freunde, Partys. Doch auf einmal war

nichts mehr selbstverständlich. Eine Pandemie drückte die Stopp-

Taste. Alles scheint seitdem langsamer zu gehen, sagen sie. Heute

haben sie zusammen ausgeschlafen. Die Online-Vorlesung kann

man ja nachher noch streamen. Das wirkliche Uni-Leben falle aber

aus. „Meine Oma verlässt ihr Haus gar nicht“, sagt Lilly, „da find

ich's bisschen unfair, wenn man sich nicht dran hält, einfach weil

man Bock hat, seine Freunde zu sehen.“

Mit dem Geld wollen sie reisen. Am liebsten

durch Südamerika

Lilly und Ludwig warten nicht mehr nur darauf, dass die Pandemie

endlich vorbeigeht. Sie machen selbst etwas. Es sei schön, ein

kleiner Teil der Lösung zu sein, meint Ludwig und gibt sich Mühe,

nicht zu pathetisch zu klingen. Das Geld hat ihn ja auch nicht

abgeschreckt. Bis zu 1700 Euro soll man als Proband verdienen.

„Da sag ich nicht nein“, sagt er, als würde er den Vertrag gerade

noch einmal unterschreiben. „Ist 'ne Win-win-Situation“, wirft

seine Freundin ein. Mit dem Geld wollen sie reisen. Am liebsten

durch Südamerika. Ihre Flugtickets liegen vielleicht schon vor

ihnen: acht Ampullen dunkelrotes Blut. Die Anzahl der Antikörper

darin, entscheidet vielleicht, ob Student*innen überhaupt bald

wieder ihre Backpacks auf Langstreckenflügen einchecken oder

nicht.

Ähnlich wie die Konkurrenten Biontech und Moderna, verlässt

sich auch das Unternehmen, das die Studie in München durchführt,

auf eine neue Methode. Bei Curevac erforscht man schon seit

Jahren, wie sich Impfstoffe mithilfe der sogenannten Messenger-

RNA entwickeln lassen. Die mRNA heißt so, weil sie

gewissermaßen eine Bauanleitung für die Zelle ist. Sie überbringt

den Zellen die Nachricht, welche Proteine sie produzieren sollen.

Ein mRNA-Impfstoff nutzt das aus. Er liefert den Zellen die Bauanleitung für ein Protein des Coronavirus (in diesem Fall das charakteristische Spike-Protein, die bekannten Spitzen auf dem Virus). Wenn dieses bislang für den Körper unbekannte Protein hergestellt ist, bildet das Immunsystem Antikörper dagegen. Ohne, dass der Körper das Virus je wirklich gesehen hat.

Für Lilly und Ludwig ist das nichts Neues. Sie wissen, wie die

mRNA funktioniert. „Schon seit der Oberstufe“, sagen sie. Welche

Dosis sie bekommen werden, wissen sie aber nicht. Die Studie ist

blind. „Doppelblind“ sogar. So heißen Studien, bei denen auch die

Versuchsleiter*innen nicht wissen, in welcher Versuchsgruppe die

Proband*innen sind. Das soll garantieren, dass alles objektiv

abläuft. Sie könnten eine Dosis bekommen, die so niedrig ist, dass

überhaupt nichts passiert. Oder eine, die sehr hoch ist. So soll eine

ideale Dosis gefunden werden, damit der Impfstoff bei der

Zulassung vollkommen sicher ist. „Zumindest nicht die

allerhöchste Dosis“ wollten sie bekommen, sagt Lilly. Dann

wurden sie geimpft. Wie sie auf die Impfung reagieren würden,

wusste niemand.

Petra und Harald

„Absolut nichts“ habe sie gespürt, sagt Petra*. Sie und ihr Mann

Harald haben die Impfung bereits im August bekommen. Wer die

Ärztin und den Ingenieur in ihrem Einfamilienhaus in München

besucht, kommt im Flur an drei bunten Schulranzen vorbei. „Für

die Kinder“ haben sie an der Studie teilgenommen, sagen Petra,

blond, grundsätzlich lächelnd, und Harald, grau, grundsätzlich

grübelnd, am Esstisch. Überall im Wohnzimmer liegt Spielzeug

bereit. Ein Piratenschiff, ein Helikopter und eine pinke

Karaoke-Anlage warten auf ihren Einsatz. Hier haben sich die

Kinder durch die Langeweile des ersten Lockdowns gespielt. Petra

ist 52, Harald 58. Wenn ihnen bei der Studie etwas passiert wäre,

wären die Kinder alleine gewesen. Ihre Eltern haben trotzdem

mitgemacht. Beide. Warum?

Wenn Lilly und Ludwig im dritten Semester ihrer Beziehung sind,

sind die Harald und Petra im sechsundsechzigsten. 33 Jahre sind sie

verheiratet. Und genau so lange scheinen sie schon zu diskutieren.

Sie messen sich gerne. Ein gutes Argument hat in ihrer Beziehung

so viel Gewicht wie in anderen zum Hochzeitstag geschenkte

Kreuzfahrten auf dem Nil. Gerade diskutieren sie, ob die

Schulschließung im Frühjahr ihre Kinder zurückgeworfen hat.

Petra meint: nein. „Unsere haben das gut verkraftet” sagt sie, „aber

nur weil sie vorher schon gut waren.” Harald kneift die Augen

zusammen. Seine über die vielen Jahre als Raumfahrtingenieur in

die Stirn gedachten Falten ordnen sich zu einem V. Als würde er

seine Gedanken langsam Richtung Mund kanalisieren. „Larifari!

Religion, Musik, Kunst. Das musste weglassen. Dann können die

wieder aufholen in Mathe!”

„Wenn wir es nicht machen, wer sonst?”

In einer Sache sind sie sich dann doch einig: Schließen dürfen die

Schulen auf keinen Fall noch mal. Irgendwann könnten die Kinder

den Stoff nicht mehr aufholen, sagen sie. Deshalb hat er auch mit

58 und Petra mit 52 an der Impfstudie teilgenommen. „Wenn wir

es nicht machen, wer sonst?”, sagt sie. Proband*innen in ihrem

Alter sind sehr selten. Sorgen hatten sie keine. Schließlich finde die

Studie in Deutschland statt, sagt Harald, „da gibt es Vorschriften“.

Er hebt die Hand und zählt seine Argumente mit den Fingern mit.

Das macht er öfter, wenn er spricht. Auch wenn es gar nichts zu

zählen gibt. Vielleicht weil es seinen Aussagen etwas

Quantifizierbares gibt. Als könnte man das, was er sagt, nachher

genau so nachrechnen und würde immer zum gleichen Schluss

kommen. In diesem Fall lautet der: Die Studie ist sicher. „Das ist

klar.”

Auch einige Monate nach der Impfung haben die beiden keine

Nebenwirkungen gespürt. Jetzt hoffen sie, dass der Impfstoff bald

zugelassen wird. Auch wenn Harald inzwischen zweifelt, ob der

dann auch wirklich was bringt. Es gebe einfach zu viele Leute,

denen das alles „wurscht” sei, die sich nicht impfen lassen würden

und damit die Pandemie für alle verlängern, sagt er. Petra hält

dagegen. Jeden Tag bei ihrer Arbeit im Krankenhaus sehe sie das

Gegenteil. „Die Leute in der Klinik haben Angst.” sagt sie: „Die

wollen sich impfen lassen.” Ihr Mann hebt wieder die Hand und

addiert Argumente. Sie presst die Lippen zusammen. Das Lächeln

verschwindet, ihr Mund wird zum Minus. „Lässt du dich denn

impfen, Linus?”, fragt sie ihren jüngsten Sohn, als der gerade

durchs Wohnzimmer rennt. „Wenn’s das für Sechsjährige gibt,

klar”, ruft der Kleine. „Ist ja nur ein Piks”, sagt Petra. „Ja ein Furz

ist das!” „Genau.”

Ein kleiner Pikser?

Lilly und Ludwig, die beiden Studierenden, bekommen ihren Pikser am

11. November im Tropeninstitut. Vier Stunden müssen sie danach

am Institut bleiben. Dauerbeobachtung. Also schauen sie noch eine

Vorlesung Biochemie auf Ludwigs Laptop. Und während die

beiden hören, wie der Körper Proteine produziert und sich dadurch

verändert, horcht Lilly hin und wieder in sich hinein. „Passiert das

gerade auch in mir?”, fragt sie sich. Noch spürt sie nichts.

Eine Woche später, beim Check-up-Termin, blickt Studienleiter

Arne Kroidl von den Proband*innen-Akten der beiden auf. „Hamse

ordentlich reagiert, ne?” Er lächelt ein verständnisvolles Ärzte-

Lächeln. Man sieht es nicht, wegen der Maske, aber die Fältchen

an seinen Augen verraten es. Reagiert haben Lilly und Ludwig mit

Kopfschmerzen. Am Abend nach der Impfung fühlten sich beide,

als hätten sie eine Grippe. Fieber haben sie auch gemessen. „37,9.

Und am nächsten Tag auch noch ein bisschen”, sagt Lilly. In den

Tagen danach ging es ihnen schnell wieder besser. Eine ganz

normale Immunantwort versichert Kroidl. Mit seinem Kuli

zeichnet er eine Kurve in die Luft. Es ist die Corona-Kurve. Erst

flach, dann exponentiell ansteigend. Nur dieses Mal bedeutet sie

etwas Gutes.

Mit der Kurve meint er Lillys und Ludwigs Immunantwort. Ihr

Immunsystem hat wahrscheinlich auf den Impfstoff reagiert. Das

ist der Grund für die Kopfschmerzen nach der Impfung. Und das ist

eine gute Nachricht. Es könnte bedeuten, dass der Impfstoff das

Immunsystem aktiviert. „Waren Sie besorgt?”, fragt Kroidl.

„Halb so wild”, sagt Ludwig, „wir wussten ja, dass das passieren

kann.” „Bei Ihnen ist alles okay”, versichert Kroidl. Er nimmt

sich Zeit für Lilly und Ludwig, beantwortet ihre Fragen. Das ist

ihm wichtig. Denn die Proband*innen sollen sich hier gut

aufgehoben fühlen. Und das tun sie auch. Lilly fragt den

Studienleiter noch etwas zur Studie. Einfach so, aus Neugier. Wie

sie sich so gegenübersitzen, den Schreibtisch und ihre gemeinsame

Expertise zwischen sich, wirken sie wie ein Professor und eine

Studentin, die die anstehende Bachelorarbeit besprechen. Nur

dürfte das Ergebnis dieser Arbeit am Ende mehr Menschen

interessieren als Lillys Eltern.

Nachher setzen Lilly und Ludwig sich noch auf eine Bank vor der

Uni. Eigentlich, in normalen Semestern, ist es schwierig, hier

überhaupt einen Sitzplatz zu bekommen. Jetzt sind alle Bänke frei.

Werden sich überhaupt genug Menschen impfen lassen, wenn es

so weit ist? War die Studie vielleicht umsonst? Ludwig glaubt das

nicht. „Wenn deine Freunde sich impfen lassen und erzählen: Hey

bei mir war's voll chillig”, sagt er, „dann machen das auch mehr.”

Und die wilden Theorien in den sozialen Medien, dass sich die

Impfung in die DNA einbaue und das Erbgut verändere? „Das ist

alles Quatsch”, er schüttelt den Kopf. „Man weiß ja, dass die

mRNA die DNA nicht verändert,” sagt Lilly, als würde sie es einem

Kleinkind erklären.

Sie wissen aber auch, was in dieser Studie vor

sich geht. Und deshalb vertrauen sie ihr

Wenn man sieht, wie Lilly und Ludwig ihre Köpfe schütteln, über

Verschwörungsmythen, und darüber, dass erwachsene Menschen

so was glauben können, merkt man, warum sie so wenig

Berührungsängste mit der Unsicherheit haben. Warum sie ihre

Körper zum Versuchsgegenstand machen. Und sich dabei kaum

sorgen. Es ist einfach: Sie verstehen sehr gut, wie das alles hier

funktioniert. Als die Ärzt*innen ihnen vor der Impfung erklärt

haben, was die mRNA ist, wussten sie es eigentlich schon. Und wie

Studien funktionieren, lernen sie jeden Tag an der Uni. In ihrer

Beziehung vertrauen sie sich, weil sie wissen, was im jeweils

anderen vor sich geht, sagen sie. „Weil wir uns schon so lange

kennen“, sagt Lilly. Sie wissen aber auch, was in dieser Studie vor

sich geht. Und deshalb vertrauen sie ihr.

Auch Harald und Petra geht es so. Als Ärztin hat Petra selbst schon

ähnliche Studien durchgeführt, „und im Krankenhaus sehe ich

jeden Tag viel Schlimmeres als so ein paar Impf-

Nebenwirkungen“, sagt sie. Petra weiß, was ein Körper abkann und

was nicht, und deshalb macht sie mit. Und Harald? Der weiß, wie

wenig man weiß. Generell. Aber vor allem als Wissenschaftler

ohne Studien. Und deshalb macht er mit. Auch mit 58.

Vertrauen wächst mit Nähe. Da scheinen sich Liebe und

Wissenschaft ausnahmsweise mal gar nicht so fremd.

*Die Namen der Proband*innen wurden geändert. Die

Studienleitung des Tropeninstituts an der LMU München möchte

die persönlichen Daten der Studienteilnehmer*innen schützen.

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