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Aufhebung des Patentschutzes als Ausweg aus der globalen Pandemie
In Deutschland kann sich inzwischen jede*r Erwachsene impfen lassen. Zumindest, wenn man sich mit Astrazeneca zufrieden gibt, das Vielen als hässliches Entlein unter den Vakzinen gilt. Bereits 30 Prozent der Deutschen haben zumindest die erste Impfung erhalten. Auf dem afrikanischen Kontinent hingegen ist es noch nicht einmal ein Prozent. Das Programm Covax der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat das Ziel, dass bis Ende 2021 in jedem Land der Welt 20 Prozent der Menschen geimpft sind. Doch schon jetzt scheint dieses Ziel unrealistisch.
Um diesem Ungleichgewicht entgegenzuwirken, fordern einige, den Patentschutz der Covid-19-Vakzine aufzuheben. Spätestens seit die USA am Donnerstag erklärt haben, ein solches Vorhaben zu unterstützen, wird auch in der EU darüber diskutiert. Doch es gibt viele Bedenken, die auch Bundeskanzlerin Angela Merkel teilt. Zum Beispiel, dass es selbst nach einer Lockerung des Patentschutzes viel zu lange dauern würde, bis Länder des Globalen Südens diese Impfstoffe produzieren könnten. Lara Dovifat sieht das anders. Die 30-Jährige ist politische Referentin von Ärzte ohne Grenzen. Bei der gemeinnützigen Organisation setzt sie sich als Kampagnen-Managerin dafür ein, dass auch Europa für die Dauer der Pandemie die Aufhebung des Patentschutzes unterstützt.
jetzt: In Deutschland sind nun 30 Prozent der Bevölkerung geimpft. Freuen Sie sich, wenn Sie diese Zahl hören?
Lara Dovifat: Natürlich freue ich mich. Impf-Fortschritte sind erst mal etwas sehr Schönes, weil es uns dem Ende der Pandemie ein Stück weit näher bringt. Andererseits finde ich diese Zahl traurig und schockierend, auch dadurch zustande gekommen ist, dass sich Deutschland und andere reiche Länder 80 Prozent des verfügbaren Impfstoffes gesichert haben, während die ärmsten Staaten, gerade einmal 0,3 Prozent der Vakzine verimpft haben. Das ist eine moralische Bankrotterklärung.
Wie haben Sie die Debatte wahrgenommen, dass Deutschland und die EU sich deutlich mehr Impfstoff hätten sichern sollen?
Da musste ich immer ein bisschen schmunzeln. Die Zahlen sind eigentlich andere. Deutschland und die EU haben sich ausreichend, eigentlich sogar viel zu viel Impfstoff gesichert. Wir werden bald in einer sehr privilegierten Situation sein, in der wir mehr Impfdosen haben, als wir tatsächlich benötigen. Wir sehen bei Ärzte ohne Grenzen, dass in vielen Ländern, in denen wir arbeiten, gar kein Impfstoff ankommt. Dass dort medizinisches Personal und Risikogruppen noch Jahre warten müssen, bis sie geimpft werden können. In vielen afrikanischen Ländern ist frühestens 2023 damit zu rechnen, dass genügend Impfstoff ankommt.
Nur ein Prozent der Bevölkerung in Afrika ist geimpft. Hage Geingob, Präsident von Namibia, spricht von Impf-Apartheid. Wählt er zurecht einen derart drastischen Begriff?
Wenn die Länder des Globalen Südens solche Begriffe nutzen, müssen wir da genau hinhören. Die Zahlen sprechen für sich. Die Covax-Initiative ein globaler Einkaufs- und Verteilungsmechanismus, die sich dafür einsetzt, den Impfstoff auch an ärmere Länder zu verteilen. Ihr Minimalziel war, in allen Ländern bis zum Sommer drei Prozent der Bevölkerung zu impfen. Prognosen zeigen, dass es vermutlich nicht einmal 1,3 Prozent werden. Das ist ein klägliches Versagen des einzigen internationalen Mechanismus zur Impftstoffverteilung, den wir haben.
„Das ist eine moralische Bankrotterklärung“ – Lara Dovifat darüber, dass sich reiche Länder rund 80 Prozent des Covid-19-Impfstoffes gesichert haben.
Die EU argumentiert damit, dass sie ohnehin schon doppelt so viel Impfstoff exportiert, wie sie selber verimpft.
Da muss man aber ganz genau schauen, wer die Abnehmer der Pharmaunternehmen in diesen Fällen sind. Vereinbarungen mit reichen Staaten wurden sehr viel schneller erfüllt als mit Staaten, die zwar medizinisch den Impfstoff deutlich nötiger hätten, aber nicht ganz so hohe Preise zahlen können. So gehen beispielsweise nur zwei Prozent der Pfizer-BionTech Impfdosen an die Covax-Initiative und damit ärmere Länder. Die EU und Deutschland sind meilenweit davon entfernt, alles dafür zu tun, die Produktionskapazitäten und die Impfstoffmenge auszubauen. Deutschland betont immer wieder, dass es Covax finanziell unterstützt. Aber wo kein Impfstoff ist, da bringt auch Geld nicht allzu viel. Es geht jetzt darum, solidarisch zu verteilen, Produktionskapazitäten auszubauen und rechtliche Beschränkungen aus dem Weg zu räumen, die Letzteres verhindern.
„Es geht darum, bestehende Kapazitäten umzubauen und für die Herstellung zu nutzen“
Ärzte ohne Grenzen setzt sich deswegen stark für die Aufhebung des Patentschutzes ein. Die USA haben nun vor Kurzem diese Forderung ebenfalls unterstützt. War das für Sie eine Überraschung?
Das war ein historischer Moment. Diesen Vorschlag haben Indien und Südafrika vor über sechs Monaten bei der Welthandelsorganisation vorgelegt, inzwischen unterstützen ihn 100 Staaten. Bilder aus Indien zeigen, wie notwendig diese Maßnahme ist. Es ist aber wichtig zu erwähnen, dass es bei diesem Vorschlag keinesfalls nur um die Vakzine geht, sondern auch alle anderen medizinischen Produkte, die nötig sind, um diese Pandemie zu bekämpfen. Also FFP-Masken, Ventilatoren, mögliche Medikament und Testmaterialien.
Trotz dieses Schritts halten die USA weiterhin an ihrem de-facto Exportstopp für diese Materialien fest.Werden diese Exportstopps auch fallen?
Ja, das muss passieren. Es gibt einen Impfstoff-Produzenten in Indien, das Serum Institute of India, der Astrazeneca produziert und viele ärmere Länder beliefert hat. Wir haben gehört, dass die in Schwierigkeiten geraten könnten, weiter zu produzieren, weil die USA bestimmte Rohstoffe vom Export ausschließen.
Das Argument einiger EU-Politiker*innen ist, dass das Aufheben des Patentschutzes nichts bringen würde, weil die Fabriken und Voraussetzungen in anderen Ländern überhaupt nicht gegeben seien, um diese komplexen Impfstoffe zu produzieren.
Es gibt Fabriken und Produzenten auf dem afrikanischen Kontinent, in Indien, in Indonesien oder Südamerika, die dazu in der Lage wären. Indien ist einer der größten Impfstoff-Produzenten der Welt. Es ist ja nicht so, wie oft argumentiert wird, dass nun auf der „grünen Wiese“ Impfstoff produziert werden soll. Es geht darum, bestehende Kapazitäten umzubauen und für die Herstellung zu nutzen. Das wurde in Europa genauso gemacht. Biontech hat beispielsweise das Novartis-Werk erfolgreich übernommen. Dort hat es nur viereinhalb Monate gedauert, bis die Produktionslinien aufgebaut waren. Und das kann man auch anderswo auf der Welt wiederholen.
„Es wäre falsch, die junge, gesunde Berlinerin gegen die Krankenschwester im Südsudan auszuspielen“
Ein weiterer Einwand ist, dass sich Forschung lohnen soll, dass geistiges Eigentum geschützt werden muss. Durch diese Maßnahme würde sich Forschung nicht mehr lohnen und Innovationen und neue Impfstoffe blieben künftig aus.
Man muss ganz genau hinschauen: Wo und wie wurden denn diese Innovationen wirklich getätigt? Bei den Covid-19-Impfstoffen war es wie in vielen anderen medizinischen Bereichen so, dass sie durch öffentliche Gelder und Einrichtungen finanziert und vorangetrieben wurden. Die mRNA-Technologie wurde auch an öffentlichen Universitäten entwickelt. Der von Astrazeneca vertriebene Impfstoff müsste viel mehr Oxford-Impfstoff heißen, weil er dort an der Universität entwickelt und erst sehr spät privatisiert und monopolisiert wurde. 97 Prozent der Forschung wurden durch öffentliche Gelder finanziert. Ähnlich bei Moderna. Da gehen Wissenschaftler*innen davon aus, dass er zu fast 100 Prozent von öffentlichen Geldern finanziert wurde. Innovation geschieht nicht immer nur durch private Akteure. Im Gegenteil. Das patentbasierte Innovationssystem funktioniert oft gar nicht, wie es sollte. Denn bei vielen Krankheiten, die vor allem ärmere Menschen betreffen, bestehen massive Forschungslücken, weil diese Krankheiten die private Wirtschaft nicht besonders interessieren, weil man Innovationen hier nicht teuer verkaufen kann. Zum Beispiel Tuberkulose: Hierfür wurde seit über 50 Jahren kein neues Medikament mehr auf den Markt gebracht, obwohl das vor Covid-19 die tödlichste Infektionskrankheit der Welt war.
Was ist die Gefahr, wenn wir Europäer*innen das jetzt praktisch aussitzen und erst danach überlegen, wie es dem Rest der Welt geht?
Die große Gefahr ist, dass wir als Weltgemeinschaft versagt haben, diese Pandemie gemeinsam zu lösen und zu bekämpfen. Wir sehen ja jetzt schon, dass, wenn die Pandemie wo anders noch im vollen Gange ist, sich Varianten entwickeln werden, die zumindest eine Auffrischungsimpfung notwendig machen. Wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht in einen dauerhaften Kreislauf von Verteilungskämpfen begeben. In ärmeren Ländern kann oft ein Lockdown aus wirtschaftlichen Gründen nicht so umgesetzt werden wie bei uns. Oft heißt nicht zur Arbeit gehen automatisch kein Geld und schließlich, nichts zu Essen zu haben. Außerdem sind Gesundheitssysteme des globalen Südens ohnehin schon deutlich stärker belastet, durch Krankheiten, die wir gar nicht mehr so richtig kennen, wie zum Beispiel Tuberkulose. Diese Gesundheitssysteme waren schon vor Covid-19 am Limit.
Glauben Sie, junge Menschen in Deutschland würden noch ein Jahr länger auf Freiheiten verzichten, um global solidarisch zu handeln?
Ich glaube, diese Debatte lenkt von der eigentlichen Diskussion ab. Es wäre falsch, die junge, gesunde Berlinerin gegen die Krankenschwester im Südsudan auszuspielen. Aber natürlich ist es wichtig, medizinisches Personal und Risikogruppen prioritär zu impfen. In den USA und anderen Ländern gibt es schon längst Überschuss-Dosen, die verteilt werden müssten. Wenn wir jetzt anfangen würden, die Technologie zu teilen, das Wissen auszutauschen, dann hätten wir in vier bis sechs Monaten eine größere Produktionskapazität und könnten mehr Menschen impfen. Diese Pandemie ist erst vorbei, wenn sie für alle vorbei ist. Das erfordert ein solidarisches Handeln und nicht den Schutz von Profit einiger Pharmaunternehmen. Seit über sechs, sieben Monate unterstützen über 100 Länder diesen Vorschlag, den Patentschutz aufzuheben. Es ist erschreckend, wie die EU und federführend die Bundesregierung, diesen Vorschlag weiterhin blockieren.