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Berlinkolumne: Sei Mensch, sei Bahnhof, sei Berlin
Letzte Woche, U8, Alexanderplatz. Ich sehe schon am Bahnsteig, dass irgendetwas anders ist. Zwei U-Bahn-Wachen warten, und zwar nicht auf irgendetwas, sondern auf diesen Zug, auf diesen Wagen. Der ist zumindest im hier haltenden Abschnitt menschenleer, obwohl beste Ausgehzeit herrscht. Nicht ganz menschenleer: Ein älterer Mann liegt da, auf dem Kunststoffboden, auf dem Bauch. Verwahrlost würde man seinen Zustand wohl nennen, das sieht man auch aus der Entfernung. Er bewegt sich nicht, und die U-Bahn-Wachen scheinen das auch nicht mehr zu erwarten. Zu zweit und vergleichsweise ruppig nehmen sie den Köper, ziehen ihn aus dem Zug und legen ihn in ähnlicher Position auf den Bahnsteig. Dann warten sie wieder. Vielleicht auf Verstärkung, vielleicht auf Sanitäter. Vielleicht ist das auch gar nicht mehr notwendig, ich weiß es nicht und werde es auch nicht mehr herausfinden, weil die Bahn ja weiterfährt. Der Wagen stinkt, ob das jetzt ein besonderer Gestank ist oder der ganz alltägliche, der eines Verkehrsmittels, das täglich Millionen Menschen transportiert, kann ich nicht sagen. Die Sitzplätze in der Wagenmitte bleiben spärlich besetzt. Kurz später erzähle ich K., mit der ich einen Kinofilm ansehe, in dem es zu großen Teilen um Armut geht, das ich eben vielleicht eine Leiche gesehen habe. Ich meide am nächsten Tag den Blick in die Lokalpresse und hoffe, dass der nur ganz betrunken war. Ein blödes Gefühl bleibt.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Berlin ist arm, aber sexy. Sagte irgendwann mal der Regierende Bürgermeister, seitdem sagt's jeder. Berlin ist aber bekanntermaßen sehr viel mehr, was man seit einigen Monaten auf der eigens eingerichteten Homepage www.sei-berlin.de nachlesen kann. Da stehen dann in knackigem Rot verblüffend sinnfreie Sätze wie "Sei Talent, sei Musical, sei Berlin", "Sei Anywhere, sei Anytime, sei Berlin" oder, am schönsten, "Sei Mensch, sei Bahnhof, sei Berlin". Wer möchte, kann seinen eigenen Spruch einsenden, gerne auch garniert mit einer kleinen Geschichte. 1967 Beiträge wurden bereits auf den Bahnsteigkanten Berliner Bahnhöfe verklebt, weitere sollen folgen. Ein paar Leistungsträger aus der Kultur wurden wohl zusätzlich gefragt und halten auf Werbeplakaten riesige und sehr eckige Sprechblasen in die Luft. Leere, wohlgemerkt. Um auf dieser Seite etwas zu sozialen Schieflagen zu finden, muss man schon die Suchfunktion bedienen. Und auch dann kommt nicht besonders viel rum.
Dabei springt einem die Armut hier auf eine Art und Weise ins Gesicht, die extremer ist als in den anderen deutschen Städten. An einiges gewöhnt man sich ziemlich schnell, etwa an die "Straßenfeger"-Verkäufer, an die beiden Obdachlosen - 6.000 gibt es in Berlin insgesamt -, die mitten auf dem Gehweg der Kastanienallee kampieren oder an die unzähligen Bettler vor Banken und an Bahnhöfen. Andere Sachen gehen zumindest mir schon noch unter die Haut. Da war neulich zum Beispiel diese Frau in Kreuzberg, die offenbar ganz systematisch die Mülltonnen der Hinterhöfe an der Reichenberger Straße nach Pfandglas und anderem Verwertbaren durchsuchte und die Beute in einem alten, quietschenden Kinderwagen die Straße herunterschob. Oder die U-Bahn-Haltestelle Kotbusser Tor: Hier auf jemanden zu warten, macht wirklich nicht besonders viel Spaß. Es nervt, ständig von Dealern angequatscht zu werden. Vor allem schockt es abder, soviel Elend, soviel Blässe, soviel Perspektivlosigkeit zu sehen. Die ganz alltägliche, nicht sichtbare Armut, die kommt zu alldem noch dazu. Laut Berliner Zeitung ist jedes dritte Hauptstadtkind arm, Tendenz steigend. Mein Kiez ist wohlhabend. Kleine Geschäfte verkaufen Babybekleidung, Biokost, kluge Bücher, Schallplatten und schöne Möbelstücke. Von der Babybekleidung mal abgesehen entspricht das ziemlich genau meinen Interessen. Trotzdem entwickle ich langsam so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Lösungsansätze gibt es natürlich diverse, vom gepflegten Wegignorieren aller Probleme über soziales Engagement bis hin zum Wählen von Parteien, deren Programme eher den Ärmeren als mir helfen würden. Beim Gespräch im Freundeskreis stellen wir fest, dass die meisten sich für einen Mittelweg entscheiden. Grün wählen, ab und an 50 Cent in den Pappbecher, wenn's ganz spät wird, lieber das Taxi. Irgendwie nur so halb zufriedenstellend. Auch, wenn es natürlich total kleinteiliger Unsinn ist, fällt mir ein, dass ich das mit dem leblosen Körper in der U-Bahn vielleicht einmal googeln sollte. Eine Viertelstunde recherchiere ich, mit den nahe liegenden Suchwörtern. Keine Meldung, ich bin irgendwie erleichtert. Beim Suchbegriff "Alexanderplatz" kommt dann aber was anderes: ein Riesenposter. "Sei einzigartig, sei vielfältig, sei Berlin" steht da drauf und es hängt noch bis Ende November mitten in Berlin. Es ist der Schluss- und Höhepunkt der Hauptstadtkampagne. Ein blödes Gefühl bleibt.
Text: jochen-overbeck - Illustration: Katharina Bitzl