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Russische App will Anonymität abschaffen
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In Russland scheinen gerade Dystopien aus Hollywood-Filmen real zu werden. So wie Batman in "The Dark Knight Rises" oder Tom Cruise in "Minority Report" soll eine Technologie ermöglichen, jedes unbekannte Gesicht aus jeder Kamera mittels Algorithmus und Foto-Vergleichen ausfindig zu machen und zu identifizieren. Die App Find Face will eigentlich vor allem zwei Ziele verfolgen: Dem Menschen zeigen, wie fortgeschritten seine Technologie ist. Und gleichzeitig darauf hinweisen, wie gefährlich sie sein kann. Find Face kann aber noch viel mehr. Ein Anruf bei Chef-Entwickler Artem Kukharenko zeigt, warum wir uns damit beschäftigen sollten.
Jetzt: Artem, bedeutet Find Face das Ende von Anonymität im öffentlichen Raum?
Artem Kukharenko: Ja. Ich denke schon, dass ein großer Teil der Privatsphäre durch unseren Algorithmus zerstört wird.
Klingt ehrlich gesagt bedenklich.
Ich sehe kein Problem darin. Du wirst zum Beispiel von Überwachungskameras fotografiert, dein Foto dann mit denen aus den Datenbanken verglichen – und wenn es keine Übereinstimmung gibt, wird dein Foto wieder gelöscht.
Das bedeutet faktisch ja, dass jeder, der den Algorithmus bedienen kann, einen Menschen überall und immer beobachten kann. Verstehst du, dass das manchen Leuten Angst macht?
Klar. Aber es liegt ja an dir selbst, ob du Angst haben musst. Wenn du ein guter Bürger bist und nichts zu verbergen hast, passiert dir doch durch die Gesichtserkennung nichts. Es geht uns um Technologie und Fortschritt. Wenn man zurückschaut auf die Geschichte und die technische Entwicklung des Menschen, hat immer die Technologie gewonnen. Kann sie mehrere Bereiche des menschlichen Alltags erheblich verbessern, wird sie benutzt, dann wird sie sich gegen jegliche Bedenken durchsetzen. Nimm nur Handys. Als die erfunden wurden, hatte auch jeder Bedenken, dass die ständige Erreichbarkeit auch Nachteile haben könnte. Und? Der Fortschritt war zu übermächtig.
Nicht nur Überwachungsorgane, auch Privatpersonen können durch Find Face jeden Unbekannten stalken. Der Fotografie-Student Yegor Tsvetkov hat in St. Petersburg zufällig Leute in der U-Bahn fotografiert und mit Hilfe eurer Technologie identifiziert.
Interessant, oder? Dieses Beispiel demonstriert genau das Problem, auf das wir mit Find Face aufmerksam machen wollen. Auf der einen Seite wollen wir zeigen, wie weit unsere Technik fortgeschritten ist. Auf der anderen Seite wollen wir davor warnen, dass heutzutage alle Welt viel zu viele Informationen von sich in sozialen Netzwerken postet. Leute machen Selfies von sich mit Geo-Tag, wenn sie im Urlaub sind und zeigen so jedem, dass sie nicht zu Hause sind. Sie laden Einbrecher ja quasi ein, sie auszurauben. Tsvetkovs Experiment demonstriert das sehr gut. Er hat 15 Leute abgelichtet und wiedergefunden. Nur fünf davon wollten im Anschluss nicht, dass sie in seiner Veröffentlichung vorkommen. Von den anderen zehn waren einige sogar stolz darauf und hofften, berühmt zu werden.
Gibt es dann kein Recht auf Privatsphäre mehr?
Es hängt immer von der einzelnen Person ab, was sie von sich preisgibt. Wenn du nicht willst, dass dein Foto öffentlich gezeigt wird, stell es im Internet nicht öffentlich zur Verfügung. Wenn du von Find Face nicht gefunden werden willst, kümmer dich um deine Privatsphäre-Einstellung in sozialen Netzwerken.
Postest du selbst noch Bilder von dir?
Als CEO einer Firma stehe ich ja automatisch in der Öffentlichkeit. Aber ja, ich poste auch private Bilder in sozialen Netzwerken. Ich denke aber vorher sehr genau darüber nach, was ich da poste.
Dass sie ihre Fotos auf privat stellen und so von Find Face nicht gefunden werden können, ist aber nur eine kleine Hoffnung für Zweifler, oder? Du hast ja schon erwähnt, dass auch Überwachungskameras an eurer System angebunden sind.
Aus technischer Sicht sind wir in der Lage, Fotos mit jeder Foto-Datenbank der Welt abzugleichen. Aber wir haben nicht Zugang zu jedem Netzwerk. Noch nicht. Haben wir Zugang, können wir unseren Algorithmus viel schneller und effizienter machen. Momentan haben wir Anfragen von mehr als 300 Unternehmen, die unsere Technik nutzen wollen. Sie ist ja nicht nur zur Überwachung gut, sondern auch für die Werbung, Unterhaltungsindustrie, Banking und Dating-Plattformen nützlich.
Nach welchen Standards entscheidet ihr, mit wem ihr zusammenarbeitet und mit wem nicht?
Find Face ist ein Projekt, das von unserer Firma Ntechlab gelauncht wird. Wir werden eine cloud-basierte software Plattform online stellen, zu der jedes Unternehmen dann Zugang bekommen wird, um sie für ihre eigenen Vorhaben zu nutzen. Ntechlab wird jedem die Möglichkeit geben, Find Face zu nutzen – aber dabei Verwendungs-Muster beobachten und die Organisationen und Menschen rausschmeisen, die die Technik unsachgemäß nutzen.
Momentan habt ihr nach eigenen Angaben Zugriff auf die mehr als 300 Millionen öffentlichen Fotos im russischen Facebook-Äquivalent „VKontakte“. Man kann sich eure App aktuell nur auf russisch runterladen. Wie viele Menschen vergleichen in Russland schon Fotos?
Wir haben in den vergangenen drei Monaten über eine Millionen Nutzer gesammelt und wachsen sehr schnell. Diese Nutzer haben drei Millionen Suchen gestartet, was bei 300 Millionen Fotos bedeutet, dass wir mehr als 900 Trillionen Vergleiche gemacht haben. Eine riesige Zahl!
Warum suchen Privatpersonen nach Fotos und Menschen?
Wir kennen verschiedene Intentionen. Oft findet jemand einen Prominenten toll und sucht jemanden, der dem Promi ähnlich sieht. Wenn du ein Foto von, sagen wir, Angelina Jolie hochlädst, sucht Find Face nach Frauen, die aussehen wie sie und in deiner Stadt leben. Ein anderes beliebtes Motiv ist, alte Bekannte wiederzufinden, zu denen man den Kontakt verloren hat. Ein altes Schulfoto reicht aus, um jemanden aufzuspüren. Und natürlich ist da der schon erwähnte Sicherheits-Aspekt. Diese Woche zum Beispiel hat uns die Polizei in St. Petersburg kontaktiert. Eine Gruppe Hooligans hatte ein neu gebautes Haus ausgeraubt, wurde dabei aber von Überwachungskameras gefilmt. Leute haben davon Screenshots in FindFace hochgeladen und so die Profile der Hooligans in VKontakte gefunden und die Polizei informiert. Die konnte die Täter dann ziemlich schnell finden und festnehmen.
Arbeitet ihr schon regelmäßig mit Polizei-Behörden zusammen?
Viele Beamten haben unsere Technik schon genutzt und sich danach bei uns bedankt. Sie sagen, sie können durch Find Face vor allem alte, offene Fälle bearbeiten, in denen sie zwar Fotos von Verdächtigen hatten, diese aber nicht gefunden haben. Durch unseren Algorithmus konnten die Polizisten die Kriminellen dann in sozialen Netzwerken aufspüren und im echten Leben finden. Ich denke und hoffe, dass die Kriminalitätsrate durch Find Face stark abnehmen wird. Wenn jeder weiß, dass die Polizei einen sowieso findet, wird man sich zwei Mal überlegen, ob man ein Verbrechen begeht.
Bedeutet: Ihr habt mit Find Face auch Zugriff auf Kriminal-Datenbanken und Statistiken?
Wir arbeiten momentan an einem Pilotprojekt mit Moskauer Behörden, die unsere Technologie benutzen wollen, um mit ihren 150.000 Überwachungskameras Verbrecher zu entdecken und zu identifizieren.
Was, wenn aber jemand zu Unrecht verdächtigt wird, wenn sein Foto fälschlicherweise jemand ganz anderem zugeordnet wird?
Im Gesichtsvergleich haben wir eine Quote von 99 Prozent Übereinstim-mung. Wir sind fast perfekt und werden noch besser.
Was denkst du, wie lange es noch dauert, bis sich eure Technologie durchsetzen wird?
Wir sind startklar. Wir führen gerade eine Menge Gespräche mit internationalen Netzwerken. Innerhalb der nächsten Woche wird die englische Version unserer App an den Start gehen, unsere Homepage gibt es schon auf Englisch. Und wenn wir Zugang zu weiteren Foto-Datenbanken bekommen, wird es eine weitere Woche dauern, bis der internationale Durchbruch kommt, denke ich.
Was, wenn euer Algorithmus in die falschen Hände gerät?
Das wollen wir natürlich verhindern. Unsere Technologie soll für alle Menschen verfügbar gemacht werden, jeder soll wissen, wie sie funktioniert. Es gab genug Beispiele von schlechten Menschen, die Technologien erfunden, aber nur für ihre Zwecke genutzt haben. Deswegen soll jeder Mensch Zugang zur Ntechlab-Technologie bekommen.
Wie verhindert ihr dann, dass die Technik nicht in eurem Sinne genutzt wird?
Das nehmen wir sehr ernst. Wir entwickeln dafür Algorithmen, die uns helfen, unpassende Verwendungen zu identifizieren, damit wir sie stoppen können.