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Ich sagte: „Lassen Sie ihn sterben“

Jan verlor erst seine Mutter, dann seinen Vater. Hier erzählt er, wie er die Jahre danach erlebte.
Illustration: Johannes Englmann

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Noch nie hatte Jan* jemanden kennengelernt, der ein ähnliches Schicksal erlebt hat wie er, sagt er. Der inzwischen Ende-30-Jährige hat vor zwölf Jahren erst seine Mutter, ein Jahr später dann seinen Vater verloren. Er wurde als Einzelkind mitten im Studium Vollwaise. Hier erzählt er seine Geschichte:

„Meine Mutter bekam Husten, mein Vater Bauch- und Rückenschmerzen, ehe sie mit einem Abstand von eineinhalb Jahren beide starben. Lungenkrebs und Leberkrebs. Mit Mitt 20, mitten im Studium, wurde ich Vollwaise, Hausbesitzer und war finanziell ruiniert.

Weihnachten 2012 hatte ich eine richtig schlimme Mittelohrentzündung, deswegen brachte mich meine Mutter ins Krankenhaus. Ich war damals schon länger von zu Hause ausgezogen, habe eine Stunde entfernt Geschichte und Englisch auf Lehramt studiert, aber war eben über die Feiertage bei meinen Eltern. Im Krankenhaus klagte meine Mutter über ihren schlimmen Husten. Als der eine Woche später nicht besser wurde, wurde sie selbst stationär eingeliefert – Verdacht auf Lungenentzündung. Doch die Ärzte stellten dann Krebs fest. Neun von zehn Patienten mit Lungenkrebs bekommen ihn vom Rauchen. Meine Mutter war die eine Nichtraucher-Ausnahme. Sie starb im März des folgenden Jahres.

In der Adventszeit 2014 klagte mein Vater, dass ihm Bauch und Rücken so weh täten. Sein Arzt sagte, das sei die Arthrose, vom Leben im Büro ohne Sport. Trotzdem schickte er meinen Vater ins Krankenhaus, um alles durchchecken zu lassen. Ich saß in der Uni, als er mir eine Whatsapp-Nachricht schrieb. „Ruf mich mal an. Muss dir was sagen.“ Ich habe sofort den Raum verlassen und ihn angerufen. „Muss ich dir persönlich sagen, komm nach Hause“, sagte mein Vater am Telefon. Da war ich auf 180. Er rückte dann raus mit der Sprache: „Ich habe Leberkrebs.“ Als die Ärzte in seiner Leber nachsehen wollten, entdeckten sie, dass die ganze Bauchdecke befallen war. Mein Vater starb am Silvester-Tag im selben Jahr.

„Ich brach zusammen. Habe geheult wie ein Blöder. Da wusste ich, ich brauche Hilfe“

Ich kann diese beiden Geschichten jetzt, mit Abstand, runterrattern wie eine Kassette. Ich habe sie unendlich oft erzählt. Den Verwandten, Freunden und Kolleginnen meiner Eltern, die ich anrufen und über den jeweiligen Tod informieren musste. Den etlichen Behörden und meinen eigenen Freunden, Kommilitonen und Bekannten. Ich kann jetzt relativ normal erzählen, was meinen Eltern und dadurch mir passiert ist und welche Konsequenzen es hat, wenn man als Einzelkind mit Mitte, Ende 20 seine Eltern verliert. Irgendwo habe ich gelesen, dass mit dem Tod der Eltern die eigene Kindheit ende. Das stimmt. Man wird ziemlich schnell auf ziemlich harte Weise erwachsen. Man kommt an seine Grenzen. Eines Tages saß ich im Park auf einer Bank, wegen Banalitäten bei der Anmeldung hatte mir eine Professorin die Teilnahme an einer Prüfung verweigert. Ich brach zusammen. Habe geheult wie ein Blöder. Da wusste ich, dass ich Hilfe brauche.

Erstmal dachte ich: Was soll ich bei einem Gehirn-Klempner? Aber es half ja nichts, ich musste mit jemandem reden. Ich habe dann zum Glück schnell eine gute Psychologin gefunden. Das war eine ganz normale Gesprächs-Therapie. Und die war hart. Die Psychologin hat mir Sachen vor den Latz geknallt, die meine Freunde mir aus Rücksicht erspart hatten, Sachen, die man als Trauernder nicht hören will. Klingt komisch, aber: Das hat mir sehr geholfen.

Was mir allerdings danach passierte, war unter aller Sau. Ich habe Lehramt studiert. In der Berufseignungsprüfung vor dem Referentariat darf der Staat mir private Fragen stellen, die einen normalen Arbeitgeber nicht das Geringste interessieren dürften. Ich musste von meiner halbjährigen Therapie erzählen und davon, dass ich währenddessen leichte Anti-Depressiva eingenommen habe. Dadurch haben sich meine Chancen auf eine Verbeamtung quasi auf Null reduziert. Keine Versicherung gibt mir noch eine Berufsunfähigkeits-Versicherung. Ich bin topfit, aber sie sagen, ich könnte ja wieder psychische Probleme bekommen und nicht mehr in der Lage sein, als Lehrer zu arbeiten. 

„Ich habe Hilfe gesucht und werde jetzt dafür bestraft“

Das ist absurd. Ich habe Hilfe gesucht und werde jetzt dafür bestraft. Hätte ich meine Klappe gehalten und still und alleine gelitten, wäre nichts passiert.

Ich habe sehr gelitten. Als meine Mutter gestorben ist, bin ich erstmal abgehauen, mit einem Freund fünf Wochen durch die USA gefahren und war nach meiner Rückkehr auch immer unterwegs. Mein Vater kam gar nicht damit klar, nach 41 Jahren Ehe seine Frau zu verlieren. Dass ich gleichzeitig meine Mutter verloren hatte, schien ihn weniger zu interessieren. Obwohl wir nie die engste emotionale Bindung hatten, sollte ich plötzlich seine große Stütze sein. Er hat sich nur noch von Tiefkühl-Essen ernährt, ist nicht mehr raus gegangen und fiel in ein furchtbar tiefes Loch. Manchmal, wenn ich nach einem Wochenende bei ihm wieder in meine Wohnung gefahren bin, fürchtete ich, er hängt sich vielleicht auf. Nach seinem natürlichen Tod habe ich in meinem Elternhaus tatsächlich einen geladenen Revolver gefunden. Keine Ahnung, wo mein Vater den her hatte.

Als mein Vater starb, klingelte morgens um sieben Uhr mein Telefon. Als ich die Nummer des Krankenhauses auf dem Display erkannte, wusste ich Bescheid. Am Abend vorher war ich noch bei ihm gewesen, er hatte über Atemprobleme geklagt und gesagt, ich solle gehen, er wolle nur schlafen. Der Arzt am Telefon sagte dann, mein Vater läge im Koma. Als ich im Krankenhaus ankam, haben mich Oberarzt, behandelnder Arzt und eine Psychologin empfangen. Sie haben zum ersten Mal Tacheles mit mir über den Zustand meines Vaters geredet. Er hatte mir eine Generalvollmacht ausgestellt und selbst verfügt, dass er keine lebenserhaltenden Maßnahmen wolle. Die Ärzte wollten dann von mir wissen, ob sie ihn noch mal an eine Dialyse anschließen sollten. Ich sah ihn da liegen. Die Augen und die Haut gelb, weil seine Leber nicht mehr funktionierte. Überall hingen Kabel und Schläuche an und in ihm. Ein Arzt sagte: „So schinden wir noch mal vier bis sechs Stunden heraus.“ Ich antwortete: „Nein. Lassen Sie ihn sterben.“ 

„Meine Freundin hat mir später erzählt, ich hätte an seinem Sterbebett geheult wie ein Schlosshund“

Ich rief meine Tante, meine Cousine und meine Freundin an und sagte ihnen, sie müssten jetzt bitte kommen. Von acht bis 14 Uhr haben wir zusammen am Bett meines Vaters gesessen, ich hielt seine Hand und habe irgendwas vor mich hin geredet, in der Hoffnung, er würde es in seinem Koma noch mitbekommen. Um kurz nach 14 Uhr ertönte dieser lang anhaltende Piep-Ton, den man aus dem Fernsehen kennt. Sein Herz hatte aufgehört zu schlagen. Man sitzt dann erstmal kurz da, dann kommen gleich alle möglichen Pfleger und Ärzte und bitten einen raus in einen extra Raum. Sie stellen den Totenschein aus und befreien den Verstorbenen von seinen Schläuchen und Apperaturen. Nach etwa einer Stunde durften wir wieder zu meinem toten Vater, der dann in seinem Bett lag, als würde er schlafen. Ich habe alle anderen rausgeschmissen, habe noch zwei, drei Sätze zu meinem Vater gesagt und bin gegangen. Meine Freundin hat mir später erzählt, ich hätte an seinem Sterbebett geheult wie ein Schlosshund. Erinnern kann ich mich daran nicht mehr.

Was dann passierte, kommt mir immer noch ein bißchen gruselig vor. Ich habe sofort umgeschaltet und wie ein Roboter alles abgearbeitet, was zu tun war. Vom Moment des Todes an muss man sich um jede Menge kümmern. Das fängt bei der Bestattung an: Eine Leiche muss zum Beispiel innerhalb von sieben Tagen verbrannt werden, wenn man das will. Was recht schwierig ist, wenn jemand am 31. Dezember stirbt. Den Jahreswechsel habe ich dann mit meiner Freundin auf dem Boden meines Elternhauses sitzend verbracht, zwischen jeder Menge Ordnern und Papieren. Geschlafen haben wir auf einer Luftmatratze in meinem alten Kinderzimmer. Am Neujahrstag habe ich angefangen, alle möglichen Leute anzurufen, um sie zu informieren, dass mein Vater tot ist. Das ist furchtbar. Auch wenn man nach dem xten Telefonat seinen Standard-Text parat hat. Mein Vater hatte mir noch aufgetragen, einen alten Arbeitskollegen von sich anzurufen. Ich hatte noch nie von diesem Mann gehört, er lebt inzwischen am anderen Ende Deutschlands. Er ging ans Telefon, ich stellte mich vor und er schien mich durch Erzählungen meines Vaters zu kennen. Er fragte: „Ist was passiert?“ Die Frage, die ich vorher schon so oft gehört und beantwortet hatte. Ich fing wieder an, meinen Standard-Text zu erzählen. Doch ich hörte sofort, dass der Mann am anderen Ende der Leitung in Tränen ausbrach. Mein Vater und ihn muss wohl viel verbunden haben. Ich konnte dann auch nicht mehr. Ich habe mit einem wildfremden Mann durch’s Telefon quer durch Deutschland geweint. 

„Mit den Kopien der Sterbeurkunde könnte ich mein Zimmer tapezieren“

Man hat in meinem Alter ja eher nicht so die Berührung mit dem Tod. Meine Eltern waren 60 Jahre alt, als sie starben. Das Schlimme daran war aber nicht das Wissen um ihre Krankheit. Das Schlimme war, dass man nach solchen Diagnosen keine konkreten Aussagen bekommt. Keiner will was Falsches sagen. Nichts gegen die Ärzte, aber keiner hat meinen Eltern oder mir gesagt, es könne noch so und so lange dauern oder ob es Überlebenschancen gibt. Das erste und einzige Mal werden die Ärzte in dem Moment konkret, in dem Gewissheit herrscht: „Der Sterbeprozess hat begonnen.“

Man ist nicht darauf vorbereitet, was dann passiert, es gibt keine Blaupausen dafür. All die Formalia, die ich nach dem Tod meines Vaters ganz alleine erledigen musste. Ich habe so viele Kopien seiner Sterbeurkunde, ich könnte damit mein Zimmer tapezieren. Man braucht sie überall. Oder die Sache mit dem Erbe. Die war bei mir zum Glück recht unkompliziert, weil ich Alleinerbe bin.  Aber ich war dann plötzlich Hausbesitzer und musste vom 1. Januar an sämtliche Forderungen nach steuerlichen Abgaben, Strom und Wasser und so weiter erfüllen. Nachdem ich von der Lebensversicherung meines Vaters seine Beerdigung bezahlt hatte, blieben mir etwa 4000 Euro. Dazu 400 Euro im Monat von meinem Job als Werkstudent.

Sprich: Ich war recht schnell pleite. Ich habe sehr lange überlegt, was ich mit dem Haus meiner Eltern anstelle. Dort wohnen konnte ich nicht mehr. Sobald ich es betreten habe, wurde ich unerträglich traurig. Das, was meine Heimat ausmachte, war weg. Mein Vater hatte mir kurz vor seinem Tod gesagt, ich solle es verkaufen, das hat es mir etwas einfacher gemacht. Trotzdem war es ein seltsames Gefühl, es zum Makler zu geben.

So ein Hausverkauf ist nicht billig. Ich brauchte zum Beispiel einen Energie-Ausweis, der locker mehr als 500 Euro kostet. Ich musste mir dann 2000 Euro von meiner Tante leihen, um einen Gutachter bezahlen zu können, der das Haus auf Asbest und Formaldehyd untersucht hat. Nach sechs Monaten hatte sich dann ein Käufer gefunden. Wir saßen beim Notar, der Makler, das Käufer-Ehepaar und ich. Vor mir lag ein Vertrag und mir war klar: Wenn ich da jetzt meinen Namen drunter setze, ist das Haus meiner Kindheit, das Haus meiner Eltern für immer weg. Da musste ich mich erstmal sammeln. Die Käufer haben mich angestarrt und wohl befürchtet, ich überlege es mir anders.  

„Meine Eltern haben mir mit ihrem Tod auch eine riesige Chance hinterlassen“

Jetzt bin ich in einer seltsamen Situation. Meine Eltern sind tot, ich habe auch sonst nicht wirklich Familie. Wenn meine Freunde sagen: „Ich rufe nochmal schnell meinen Vater an“, oder „Ich bin über das Wochenende bei meinen Eltern“, ist das hart für mich. Neulich hat ein Kumpel sich einen Gebrauchtwagen gekauft. Ein anderer seine Steuererklärung gemacht. Das sind so Situationen, die man ja klassisch mit seinen Eltern bespricht und sie um Rat fragt. Das kann ich jetzt nicht mehr. Trotzdem haben sie mir, so absurd das klingt, durch ihren Tod eine große Chance hinterlassen. Nachdem ich alle Rechnungen beglichen habe, bleiben mir durch den Hausverkauf etwas mehr als 100 000 Euro. Geld, das ich irgendwie investieren werde.

Man rennt nicht sein Leben lang mit einer dunklen Wolke über dem Kopf rum, das habe ich aus meinem Schicksal gelernt. So banal es klingt: Das Leben geht immer weiter. Es hat natürlich eine Weile gedauert, bis ich das begriffen habe. Mein erster Geburtstag als Vollwaise war der Wendepunkt.

Ich bin morgens aufgewacht und mir ist bewusst geworden, es ist der erste Geburtstag ohne meine Eltern. Und alle kommenden Geburtstage werden genau so sein. Ich hatte so überhaupt keinen Bock, irgendwie zu feiern. Ich wollte einfach in die Uni und den Tag wie jeden anderen beenden. Meine Freundin hat dann aber gesagt, wir könnten doch wenigstens ein paar Freunde einladen. Sie hat ein bisschen telefoniert und plötzlich kamen sie alle. Freunde, die sich nach ihrer Arbeit für zwei Stunden ins Auto gesetzt haben, nur um einen Moment mit mir zu verbringen. Das hat mir so viel bedeutet. Das war der Wendepunkt. Als ich am Ende des Tages im Bett lag, habe ich einen Entschluss gefasst: Das war es jetzt. Ja, ich habe meine Eltern verloren. Ja, das wird für immer weh tun. Aber ja: Ich werde das schaffen. Ich habe die Unterstützung meiner Freunde, auf die ich mich verlassen kann. Das Leben geht weiter – und ich weiß es jetzt umso mehr zu schätzen." 

Hinweis: Dieser Text wurde am 10.09.2016  erstmals veröffentlicht und am 4.12.2020 noch einmal aktualisiert. 

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