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Flüchtende auf dem Mittelmeer: Europaabgeordnete Terry Reintke im Interview
Italien ist mit den ankommenden Flüchtenden überfordert. In diesem Jahr waren es bisher 85.183 Menschen, 20 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Der italienische Ministerpräsident Paolo Gentiloni warnt, dass die Kapazitäten des Landes erschöpft seien – notfalls würden Rettungsschiffe abgewiesen. Um eine Eskalation der Situation zu vermeiden, soll ein von EU-Innenministern ausgearbeiteter Sechs-Punkte-Plan Italien entlasten. Unter anderem besagt dieser, dass Italien einen Verhaltenskodex für Nichtregierungsorganisationen (NGOs) festlegen darf. In dem Kodex will Italien den Rettern vorgeben, wie sie im Falle einer Rettungsaktion vorzugehen haben. Sollten NGOs diesen Kodex nicht unterzeichnen oder dagegen verstoßen, kann ihnen die die Einfahrt in italienische Häfen verweigert werden. Terry Reintke war als Europaabgeordnete des Bündnis 90/Die Grünen am Mittelmeer. Auf einem Rettungsschiff hat sie einen Eindruck von den Fluchtwegen der Menschen über das Mittelmeer bekommen. Die 30-Jährige ist der Überzeugung, dass jeder Abgeordnete einmal vor Ort sehen sollte, wie Flüchtende gerettet werden. Das Vorhaben der EU-Kommission kritisiert sie stark.
jetzt: Die EU-Innenminister wollen es Italien überlassen, einen Verhaltenskodex für NGOs auszuarbeiten. Der Kodex soll die Zusammenarbeit von NGOs und EU-Missionen verbessern. Das klingt doch eigentlich ganz gut, oder nicht?
Terry Reintke: Es hat nie ein Problem mit der Zusammenarbeit zwischen NGOs und EU-Missionen gegeben. Die NGOs haben bereits einen freiwilligen Verhaltenskodex geschrieben – und dessen System funktioniert ohne Probleme. Außerdem gibt es einige der Punkte bereits im alten Kodex. Beispielsweise legen sie schon lange die Finanzierung ihrer Seenotrettung offen. Einen neuen Kodex aufzusetzen ist deshalb Zeitverschwendung. Es ist sowieso schon ein Armutszeugnis, dass private Organisationen bei der Rettung von Flüchtlingen gebraucht werden. Dieser neue Verhaltenskodex wird nun auch noch dazu genutzt, um NGOs zu kontrollieren. Dabei sollte die EU-Kommission sie eigentlich unterstützen, statt ihnen Steine in den Weg zu legen.
Wie meinen Sie das?
Die NGOs werden durch den italienischen Kodex in ein negatives Licht gerückt. Es wird ihnen unterstellt, dass sie illegal handeln würden – dabei halten sie sich an das internationale Seerecht und alle Vorschriften.
In dem neuen Verhaltenskodex heißt es zum Beispiel: „Nicht erlaubt sind Telefongespräche oder die Aussendung von Lichtsignalen, die eine Abreise von Booten mit Flüchtenden von der libyschen Küste erleichtern. ‚Kontakte mit Schleusern’ sollen so unterbunden werden.“
Das ist genau solch ein Punkt. Dadurch wird den NGOs unterstellt, mit Schleusern zusammenzuarbeiten. Das wurde nie nachgewiesen. Die Organisationen finanzieren sich zu 99 Prozent aus privaten Spenden. Solche Aussagen könnten sich negativ darauf auswirken. Schlussendlich hieße das, dass weniger Boote auf dem Meer sein und damit weniger Leben gerettet werden können.
"Für mich sieht es so aus, als wenn die EU-Kommission Rettungen reduzieren und schwieriger machen will"
Die italienische Regierung sagt, die wachsende Zahl ankommender Flüchtender würden die Fähigkeiten des Landes übersteigen. Können Sie ihre Forderungen nachvollziehen?
Es kann nicht sein, dass Italien bei der Flüchtlingskrise allein gelassen wird – das ist ganz klar. Nur deren Weg ist nicht richtig. Italien will die Zahl der Flüchtlinge reduzieren. Mehr Boote bedeuten aber mehr gerettete Menschen, was wiederum heißt, dass mehr Flüchtlinge in Italien an Land kommen. Deshalb versucht die Regierung, die Anzahl an privaten Booten zu verringern. Hier ist eine schnellere Umverteilung der Flüchtlinge auf EU-Länder gefragt, was auch Teil des Sechs-Punkte-Plans der EU-Kommission ist. Wir brauchen da mehr Solidarität von den Mitgliedsstaaten.
Diese Solidarität fordert speziell Deutschland schon seit Jahren. Haben Sie konkrete Vorschläge wie man das erreichen kann?
Wenn Mitgliedsstaaten die Umverteilung von Flüchtlingen völlig verweigern, müssen Vertragsverletzungverfahren gegen diese Mitgliedsstaaten eingeleitet werden. Gleichzeitig brauchen wir mehr Kooperation und Einbindung der kommunalen Ebene. Kommunen oder Städte können zum Beispiel bereit sein, Flüchtlinge aufzunehmen, auch wenn die nationale Regierung es nicht ist. An dieser Stelle können wir wichtige Fortschritte bei einer solidarischen Verteilung erreichen.
Was will die EU dann Ihrer Meinung nach mit dem Verhaltenskodex erreichen?
Ich will der Kommission da nichts unterstellen, aber für mich sieht es so aus, als wenn sie die Rettungsaktionen reduzieren und schwieriger machen wollen. Sie wollen die Flüchtlingszahlen runter bekommen – ob das menschlich okay ist, ist da zweitrangig. Die EU verliert an Glaubwürdigkeit, wenn sie sich selbst nicht an ihre eigenen Prinzipien halten kann.
"Das bedeutet vermutlich, dass mehr Flüchtlinge auf dem Mittelmeer sterben werden"
Die NGOs kritisieren außerdem, dass die EU, die libysche Küstenwache noch mehr unterstützen will. Was ist daran verkehrt?
Da werden falsche Prioritäten gesetzt. Außerdem sendet es ein falsches politisches Signal. Aus Berichten von Flüchtlingen, die über Libyen gekommen sind, weiß man, unter welchen Umständen sie dort festgehalten werden. Sie werden gefoltert und eingesperrt, müssen hungern. Nach solchen Berichten ist es falsch zu glauben, dass man mit rechtsstaatlichen Behörden zusammenarbeitet. Sie stellen meiner Meinung nach keinen vertrauenswürdigen Partner dar. Die EU sollte stattdessen mehr mit den NGOs zusammenarbeiten.
Was können Sie, als von den Bürgern gewählte Europaabgeordnete, an der der Situation am Mittelmeer ändern?
Menschenrechte müssen das Fundament einer der EU würdigen Flüchtlingspolitk sein. Im europäischen Parlament streiten wir als Grüne Fraktion dafür, dass die dringend notwendige Reform des Dublin Systems nicht länger durch die Mitgliedsstaaten blockiert wird. Es ist unsere Verantwortung, dass es einen sicheren Zugang nach Europa gibt.
Das klingt ja erst mal toll. Aber ist das angesichts der Stimmung in Brüssel überhaupt realistisch?
Das Parlament hat in mehreren Abstimmungen gezeigt, dass es eine Mehrheit für eine solidarische Flüchtlingspolitik gibt. Ganz anders sieht die Stimmung im Rat zwischen den Mitgliedsstaaten aus. Statt endlich ihrer Verantwortung gerecht zu werden und diese humanitäre Katastrophe zu beenden, setzen sie auf Abschottung. Deshalb gilt weiterhin: Wir müssen an die Regierungschefs und Regierungschefinnen appellieren. Sie müssen endlich die längst überfällige Kehrtwende einleiten.
Was bedeutet das Vorhaben der EU-Kommission nun konkret für die Flüchtenden im Mittelmeer?
So hart es klingt: Das bedeutet vermutlich, dass mehr Flüchtlinge auf dem Mittelmeer sterben werden.
Was kann ich als einzelne Person aktiv tun, um den Menschen am Mittelmeer zu helfen?
Jeder kann einen Beitrag leisten indem er das Thema sichtbar macht. Zum Beispiel kann man sich an seine jeweiligen Abgeordneten wenden, Petitionen unterschreiben oder auch Mitglied von NGOs werden, die zu diesem Thema arbeiten. Ich bin davon überzeugt, dass es sich lohnt sich einzumischen und laut zu sein.