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Wie geht genderneutrale Erziehung?

Kleidung, Name, Hobbys: Vom Geschlecht eines Kindes hängt eine Menge ab.
Illustration: Daniela Rudolf-Lübke

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In dieser Kolumne geht es um Schwangerschaft und Eltern-Sein, um die Hürden, das Glück, die Mythen rund ums Thema Baby. Unsere Autorin ist Mutter einer dreijährigen und einer neun Monate alten Tochter. Folge elf: Genderneutrale Erziehung. 

  

Blättere ich durch unser Familienfotoalbum, kann ich ziemlich genau sehen, ab wann sich meine Tochter ihre Kleidung selbst ausgesucht hat. Solange die Auswahl der Outfits bei mir lag, trug sie vor allem Hosen, viel Grün und Rot, Dino-Prints. Fotos, auf denen meine Tochter zwei Jahre alt ist, zeigen diese Farbtöne aber kaum noch: Lila, rosa und pink müssen ihre Kleider (und am liebsten auch ihre Nägel, Ketten und Armbänder) heute sein, noch besser mit Einhorn-Print.  

Dabei habe ich von Anfang an versucht, sie genderneutral zu erziehen. Soll heißen: Ihr Bagger und Spielwerkzeug ebenso anzubieten wie Puppe und Pferd, Fußball genauso zu zeigen wie Ballett. Sie nicht nur in Rosa-Rüschen-Kleidchen und pinke Bodys mit Schriftzügen wie „Be kind“ oder „Daddy’s little princess“ zu stecken. Nein, meine Tochter sollte auch „Roar like a dinosaur“ und „Big Explorer“ auf der Brust tragen. Dafür musste ich in die Jungsabteilung der Geschäfte, denn Kinderkleidung ist noch immer stark nach Geschlechtern getrennt und voll von Klischees. Lange trug meine Tochter einfach, was ich ihr anzog. Babys haben keinen eigenen Kleidungsgeschmack, es sollte nur gemütlich sein.  

Ob es die geschenkten rosa Kleidungsstücke, die lila Outfits der Kita-Freundin oder wirklich ihre ganz eigene, von selbst entwickelte Vorliebe war, die dazu führte, dass sie plötzlich nur noch lila Kleider tragen wollte? Ich habe wirklich keine Ahnung.  

Doch ich merke, dass sie als Mädchen immer wieder anders behandelt wird als ein Junge: Zum Beispiel, wenn ihr andere Erwachsene sagen, dass ein bestimmtes Spielzeug „doch nichts für Mädchen” sei oder fragen, ob sie „nicht mal ein schönes Kleidchen” anziehen mag. Vor kurzem, als wir auf einem Spielplatz an einem Gerät waren, bei dem meine Tochter mit viel Kraft an einem Seil ziehen musste, riet ihr eine ältere Dame: „Das ist zu schwierig für ein Mädchen, frag besser die Jungen um Hilfe.“ Klar, ich versuche das immer einzuordnen, erkläre ihr, dass sie genauso stark sein kann wie ein Junge und sich zum Spielen aussuchen darf, was sie will. Vielleicht schaden diese Situationen auch gar nicht, weil sie mir zusätzliche Gelegenheiten geben, meine Tochter im Gegenteil zu bestärken. Und immerhin liebt sie nicht nur Einhörner, sondern auch Bagger (ganz besonders, wenn diese lila sind). 

Die Fortpflanzungsorgane des Kindes bestimmen Name, Kleiderfarbe, Spielzeugauswahl

Und das ist im Grunde ja das Ziel: Im Gegensatz zur geschlechtsspezifischen Erziehung, bei der Jungen und Mädchen bewusst unterschiedlich behandelt werden, soll das Kind bei der geschlechtsneutralen Erziehung nach den individuellen, vom biologischen Geschlecht unabhängigen Vorlieben und Fähigkeiten gefördert werden. Das kann bedeuten, dass ein Junge schon früh in Kontakt mit weiblich gelesenen Sportarten wie Ballett kommt, diese mag und dann von seinen Eltern dahingehend ermutigt wird. Natürlich kann das aber ebenso heißen, dass ein Junge, der von sich aus starkes Interesse an „typischen Jungssachen” zeigt, auch in genau diesen gefördert wird.

Der Grundgedanke ist, dem Kind diesen Freiraum zu lassen und nichts vorzugeben, nur, weil es in das klassische Rollenverständnis passt. Verschiedene Studien legen einen Zusammenhang zwischen geschlechtsspezifischer Erziehung und einer geringeren Gleichbehandlung zwischen Jungen und Mädchen nahe, auch die durchschnittlich festgestellten schlechteren Leistungen von einerseits Mädchen in Mathematik und andererseits Jungen im Lesen seien Folgen davon. Geschlechtsneutrale Erziehung hingegen trägt laut Forschung dazu bei, Vorurteilen entgegenwirken und die Effekte geschlechtsspezifischer Sozialisierung abzuschwächen.  

Eigentlich ist es doch auch völlig verrückt, wie früh das Geschlecht des Babys eine Rolle spielt. Schon in den ersten Wochen der Schwangerschaft wird beim Ultraschall nach den Genitalien des heranwachsenden Lebens gesucht. Abhängig davon werden aus den USA importierte Gender-Reveal-Partys gefeiert, im besten Fall mit einer ergebnisunabhängigen, freudigen Reaktion, im schlimmsten Fall mit enttäuschten Gesichtern. Im Krankenhaus bekommen die Neugeborenen dann ein rosafarbenes oder ein blaues Armbändchen. Vielleicht, damit es beim Windelwechseln keine Überraschung gibt? Einen medizinisch notwendigen Grund gibt es jedenfalls nicht dafür. Und natürlich sind auch viele Glückwunschkarten und Geburtsgeschenke nach wie vor gegendert. 

Die Fortpflanzungsorgane des Kindes bestimmen Name, Kleiderfarbe, Spielzeugauswahl – und irgendwann auch den Berufswunsch. Das alles war mir bewusst, trotzdem wollte auch ich das Geschlecht meines Kindes wissen, als ich schwanger war. Warum, weiß ich nicht so genau. Die Haar- oder Augenfarbe hätte ich jedenfalls nicht schon vorab wissen wollen. Und als eine Freundin einen Sohn bekam, hatte ich Hemmungen, einen Body mit floralem Muster zu schenken. Weil das nur was für Mädchen ist? Eine Studie von 2023 konnte zeigen, dass viele Millennial-Eltern zwar an genderneutrale Erziehung glauben, aber trotzdem dazu neigen, genderspezifisches Spielzeug für ihre Kinder zu kaufen. Die Muster sind noch tief verankert, die Rollenbilder im Kopf – auch bei mir. 

Geschlechtsneutral zu erziehen, bedeutet, sich der eigenen Rollenbildern und verankerten Klischees bewusst zu sein und dem Kind Freiraum zu geben, sich so zu entwickeln, wie es das möchte. In meinem Fall heißt das: Auch akzeptieren, dass meine Tochter ein in Rosa gehülltes Pferdemädchen sein möchte und sie dabei zu unterstützen, mehr zu ihren Interessen zu lernen.  

Mittlerweile fällt mir das sehr leicht, weil ich sehe, dass ihr Charakter sich trotzdem freier von Rollenklischees entwickelt. Von außen mag sie im ersten Moment das Klischee-Mädchen sein, doch wer sie kennenlernt, merkt schnell, dass sie sich in keine Schublade stecken lässt und weiß, was sie will. Lediglich ein Problem sehe ich in baldiger Zukunft auf mich zukommen: Wenn meine zweite Tochter in einem Jahr nicht auch eine starke Lila-Kleider-Phase entwickelt, werde ich für sie alles neu kaufen müssen. 

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