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Europas linker Rand

Foto: Quentin Lichtblau

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Wenn man versucht, einer Portugiesin den Zustand linker Politik in Deutschland zu beschreiben, wird einem erst klar, wie schlecht es wirklich um diese bestellt ist. Wir sind in Lissabon, am Rande Europas, rauchen Zigaretten und blicken vom Randstein aus über das weiße Kopfsteinpflaster hinweg zum Tejo. Ich probiere es mit einer Einordnung der Optionen links der Mitte im Wahljahr 2017:

Die Kretschmann-Grünen auf Kuschelkurs mit der CDU, Wählerbasis in den Karottenkuchen-Parallelgesellschaften der Republik, in den Schlagzeilen derzeit nur wegen eines rechtspopulistisch um sich schlagenden Boris Palmer. Die SPD, die nach acht Jahren Regierungsbeteiligung, Bankenrettung und Sozialkürzungen glaubt, mit „hart arbeitende Menschen“-Gebetsmühlen für mehr Gerechtigkeit stehen zu können. Und zu guter Letzt die Partei „Die Linke“ selbst, in Auftreten und Jargon so staubig und zuletzt auch bräunlich wie die Ziervorhänge einer Datscha in Mecklenburg. 

Ich erkläre, dass die Deutschen unter Linkssein gerade hauptsächlich Krawall, dann vielleicht wahlweise Veggie-Day, „Genderwahn“, Euroskepsis oder DDR-Nostalgie verstehen. Dass manche, vielleicht aus Mangel an Alternativen, manchmal Merkels CDU mit einer linken Partei verwechseln. Dass in einer Zeit, in der tausende Verzweifelte im Mittelmeer ertrinken, der Rechtspopulismus auf dem Rücken der Enttäuschten Europa auffrisst und die altbekannte Kluft zwischen Arm und Reich die Tiefe des Mariannengrabens erreicht hat, führende deutsche Soziologen zu dem Schluss kommen, dass es linkes Denken „nicht mehr braucht“. Und dass unser Innenminister Linksextreme für die größte Gefahr unserer Gesellschaft hält.

Ich erzähle weiter, dass die Mehrheit der jungen Deutschen ausgeträumt zu haben scheint, dass es nunmehr vermeintlich progressiv ist, das Vorhandene zu bewahren und wir rechten Stimmungsmachern oft nur schulterzuckend den Status Quo entgegensetzen. Dass die Deutschen auf den Plätzen der Städte Europaflaggen geschwenkt haben und ein Herzschlaggeräusch aus ihren Boxen bliesen im festen Glauben, dass es in ganz Europa zu hören war. Hier muss die Portugiesin lachen und sagt, dass sie noch nie von einem „Pulse of Europe“ gehört hat. 

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Alexandra Vidal vor ihrer Bar "Damas" in Lissabon.

Foto: Quentin Lichtblau

Die Portugiesin heißt Alexandra Vidal, wir sitzen vor ihrer alternativen Konzert-Bar „Damas“  im Viertel Alfama, hoch über und trotzdem mitten in der Stadt. Nach meinem politischen Abriss fragt sie, warum ich nach Lissabon gekommen bin.

In Portugal regiert seit Ende 2015 eine Minderheitsregierung der Sozialisten, toleriert von einem grün-kommunistischen Bündnis und dem Bloco de Esquerda, dem „Linksblock“, einer vergleichsweise jungen Partei, gegründet 1999. Die Linksregierung hat sich von der EU-Sparpolitik abgewandt, Löhne erhöht, Investoren ins Land geholt, die Arbeitslosigkeit reduziert. Internationale Medien sehen einen Wirtschaftsboom, der Guardian nennt Lissabon das „new capital of cool“ – hier scheint zu funktionieren, was in Resteuropa stets als zweites Schreckgespenst neben dem Rechtspopulismus dargestellt wird: eine linke Regierung, die sich von den Vorgaben der Schäubles und Lagardes abwendet, einen eigenen Weg geht und sich als stabil erweist.

Ähnliches passiert in Spanien, dort ist aus der Anti-Sparkurs-Bewegung „15M“ mit „Podemos“ eine Partei hervorgegangen, die nun bereits die zweithöchste Zahl an Parteimitgliedern vorweisen kann. In Madrid und Barcelona stellen Nachfolger von 15M die Bürgermeisterinnen – und versuchen, das urbane Leben nach basisdemokratischen Prinzipien und unter Beteiligung aller zu regeln. Dazu kommt, dass der Rechtspopulismus trotz Krise und EU-Sparmaßnahmen in beiden Ländern nie wirklich Fuß fassen konnte. 

Ich erkläre Alexandra also, dass ich herausfinden will, ob gerade hier, auf der sich langsam von der Krise erholenden Iberischen Halbinsel, etwas Neues entsteht, das weder für das Europa der Austerität, noch für nationalistische Abschottung steht. Ein Gegensatz zum Rechtspopulismus, aber eben auch zum Konsens-Weiter-So. Ein linkes, junges, ein anderes Europa – dessen Ideen auch das verschnarchte Deutschland wecken könnten. Sie lächelt, schaut hinab zum Tejo und seufzt.

Früher am Tag: Sechs Metrostationen hinter Alfama liegt der Vorplatz des Bahnhofs Roma-Areeiro, unter ihm die Gleise, um ihn herum mehrspurige Schnellstraßen, über den Platz zieht eine Atlantikbrise, die einen trotz hochsommerlicher Temperaturen nach ein paar Minuten zum Zittern bringt. Hier hat heute der Bloco de Esquerda eine Kundgebung, die Stadtviertel-Kandidaten für die im September anstehende Bezirkswahl stellen sich vor. Etwa 20 Leute sitzen auf den Plastikstühlen vor dem vom Wind aufgeblähten Banner, im Schnitt 35 Jahre alt. Sie klatschen auffällig oft, während die Kandidaten gegen Wind und Verkehr anreden, die meisten sind Parteimitglieder. In der ersten Reihe sitzt Rodrigo Rivera, 29, Vollbart und für seine bestimmt 1,90 Meter in einem etwas zu kleinen Polohemd. Er ist Vorsitzender der Bloco-Studentenorganisation und filmt hier die Reden seiner Genossen mit dem Smartphone.

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Rodrigo Rivera, Studentenkoordinator von Bloco Esquerda

Foto: Quentin Lichtblau

„Wir wollen eine im europäischen Sinne ,Neue Linke‘ sein“, sagt Rivera, nachdem der Stadtratskandidat Ricardo Robles seine Rede beendet hat. Neu im Sinne von: LGBT, Ökologie und Feminismus. Bloco de Esquerda wolle sich bewusst von den traditionellen Kommunisten, die ebenfalls die Regierung tolerieren, absetzen. „Die nennen sich marxistisch-leninistisch, wir nennen sie stalinistisch“, sagt Rivera. Die Kommunisten seien im linken Sinne konservativ, hätten ein ungeklärtes Verhältnis zur Sowjetunion. „Außerdem haben sie keinen Sinn für unsere neuen Themen. Ihre Perspektive auf die Welt ist eine sehr alte“, meint Rivera. Für eine Abkehr vom Verstaubten, Dogmatischen – genau dafür wolle man stehen, sagt er. Und ich nicke, während vor meinem inneren Auge die internationale-schmetternde deutsche Linksfraktion erscheint.

„Ohne die junge Generation verliert jegliche radikale Politik“

Ist Bloco de Esquerda also, mal fies gesprochen, nicht mehr als eine eine Softie-Irgendwie-Links-Partei, mit Zielen, die keinem wirklich wehtun? „Natürlich nicht!“ widerspricht Rivera. Als 2011 die Troika ins Land kam, stellte sich die Partei geschlossen gegen jegliche Verhandlungen mit den „grauen Herren“, wie Rivera sie nennt. Bei den Wählern kam das alles andere als gut an, die Wahlen gewann ein konservatives Bündnis mit klarem Pro-Troika-Kurs. „Wir haben damals die Portugiesen falsch eingeschätzt. Wir dachten, es gibt eine große Bewegung gegen den Sparkurs. Aber die Leute waren wie gelähmt vor Angst – und haben sich lieber hinter die Troika gestellt“, erklärt Ricardo Robles, der sich zu Rivera gestellt hat, um sich kurz das Video seiner Rede zeigen zu lassen.

Die Krise hat in Portugal tatsächlich zunächst zu keiner linken Gegenreaktion geführt. Abgesehen von wenigen Großdemonstrationen blieb es ruhig im Land. „Meine Generation hat entweder das Land verlassen oder war schlicht damit beschäftigt, irgendwie über die Runden zu kommen. Die hatten weder Zeit noch Kraft, auf die Straße zu gehen“, sagt Rivera, „und ohne die junge Generation verliert jegliche radikale Politik.“

Erst jetzt, wo eine Alternative zum Sparkurs von oben vermittelt werde, spüre er in seinem Umfeld ein größeres Interesse an Politik. Bloco de Esquerda kam bei der vergangenen Wahl auf 10 Prozent der Stimmen. Die rechtsextreme Partei der nationalen Erneuerung hingegen landete bei homöopathischen 0,5.

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Kundgebung von Bloco Esquerda im Stadtteil Areeiro.

Foto: Quentin Lichtblau

Wie steht seine Partei heute zur EU? Muss man den Nationalismus in Portugal vielleicht eher links suchen? „Was die EU betrifft, sind wir zwiegespalten. In den Anfangsjahren von Bloco hatten wir noch die Vorstellung von einer reformierbaren EU. Viele von uns haben diesen Glauben verloren. Versteh‘ mich nicht falsch: Wir alle sind überzeugte Europäer – aber ich glaube, wir müssen neue Wege finden zu kooperieren.“ Und Robles fügt hinzu: „Am Beispiel Griechenland haben wir gesehen, wie aggressiv die EU eine demokratisch gewählte linke Regierung in die Knie zwingen kann. Bevor das bei uns passiert, müssen wir auf jedes Szenario vorbereitet sein. Auch auf den Ausstieg.“

 

Bisher ist die direkte Konfrontation mit den Troika-Institutionen allerdings nicht absehbar. Im Gegenteil – momentan gelingt es Portugal, seine Rückzahlungen noch vor der offiziellen Frist zu leisten, was die „grauen Herren“ wohl eher milde als aggressiv stimmen dürfte. Und Bloco de Esquerda ist bisher eher durch eine Erhöhung des Mindestlohns, bessere Arbeitsverträge und einen Sozialtarif für Strom und Wasser aufgefallen, nicht durch aggressive Anti-EU-Hetze. Und was die Investitionen im Land betrifft, ist man sich trotz ideologischer Nähe alles andere als einig mit den regierenden Sozialisten.

 

Gerade die jungen, linken Großstädter können der momentanen Euphorie um die gestiegene Wirtschaftsleistung nämlich recht wenig abgewinnen. Die Investoren haben in Lissabon ganze Häuserblöcke aufgekauft und in Ferienwohnungen verwandelt, viele der neuen Jobs sind prekär und unterbezahlt. „Natürlich sind die Menschen froh, wieder Arbeit zu haben. Aber was nutzt das, wenn der Job mies bezahlt ist und du gerade aus der Wohnung geworfen wurdest?“ sagt Rivera. Die Hotelketten und AirBnBs dieser Welt haben zwar dazu beigetragen, dass viele der halb zerfallenen Lissabonner Fliesenfassaden heute wieder wie blankpoliert aussehen – die Befürchtung, dass die zentralen Viertel der Stadt aber bald kaum noch von Portugiesen bewohnt werden, ist mehr als berechtigt. Die Omis am Fenster, die Wäscheleinen über die Straße werden in der baixa, der unteren Lissabonner Altstadt, langsam zur Seltenheit. „Ich sehe da nur noch Touristen, die andere Touristen fotografieren“, sagt Rivera. 

 

„Mit der Krise wurden wir komplett in den Müll geworfen“

Zurück zu Alexandra Vidal, die sich als Bewohnerin von Alfama ebenso als aussterbende Rasse bezeichnet. „Sie haben die Stadt verkauft“, sagt die 37-Jährige, zieht betont lange an ihrer Zigarette und streicht sich eine pechschwarze Strähne aus dem Gesicht. Auf der Bühne ihres Ladens steht gerade eine Noise-Band, Freunde von Vidal, deren Musik hauptsächlich aus Rückkopplungsschleifen besteht, die bis zu uns auf die Straße dringen. „Musik zum Leute verjagen“ nennt sie das. Sie und ihre kleine Tochter wurden kürzlich aus ihrer Wohnung geworfen, nachdem ein Investor das Haus gekauft hatte. Auch das „Damas“ ist in Gefahr. Sie deutet auf das Haus gegenüber: „Hier drüben kommt ein 5-Sterne Hotel hin.“

 

Den momentanen Boom sieht sie weniger als Segen, denn als Fluch, und schon gar nicht als Ergebnis, einer klugen Politik von links: „Meine Generation war die erste gut ausgebildete nach der Diktatur. Aber mit der Krise wurden wir komplett in den Müll geworfen. Und jetzt, wo einige wieder ein bisschen Arbeit und Geld in der Tasche haben, gibt es keine Chance mehr, hier in der Stadt zu leben. Und um mal eins klarzustellen: Den Boom haben wir der Wirtschaft selbst zu verdanken. Die Politik zieht nach, egal wie links oder rechts, da greift keiner ein. Und wir bleiben auf der Strecke.“

 

In Portugal liegt der Mindestlohn momentan bei 557 Euro, im Durchschnitt verdienen die Portugiesen 900 Euro. Ein Einzimmer-Appartment im Zentrum kostet aber mittlerweile durchschnittlich 600 Euro. „Das ist der Weg in die Sklaverei!“ sagt Vidal, während eine der berühmten Kabelbahnen voller Menschen mit umgehängten Kameras vorbeituckert.

 

Und wo bleibt der Protest, wo bleiben die linken Stimmen gegen den Ausverkauf? „Auch wenn ich Bloco de Esquerdas Ideen unterstütze, setze ich nicht allzu viel Hoffnung in die Partei. Dafür hat sie momentan noch zu wenig Einfluss, weil die jungen, wütenden Leute hier zu faul sind, um wählen zu gehen oder sich sonst irgendwie Gehör zu verschaffen“, meint Vidal.

 

Die Portugiesen seien gefangen in ihrem Denken, meint sie dann nach einer langen Pause, selten bereit für etwas wirklich Neues. Sie erzählt vom Besuch bei ihren Eltern, bei dem sie mit ihrer Mutter in der Küche stand, um den portugiesischen Milchreis Arroz doce zuzubereiten: „Ich habe damals vorgeschlagen, etwas mehr Zimt zu benutzen. Da ist meine Mutter ausgerastet, das sei ja dann kein Milchreis mehr, meinte sie. Ich habe ihr dann erklärt, dass es auch in anderen Ländern Milchreis und Reisauflauf gäbe, tausend Arten ihn zuzubereiten, nicht nur die portugiesische. Das wollte sie nicht hören. Das machte ihr Angst. So sind wir Portugiesen, weißt du? Ach was, so sind wir Menschen.“

 

Hat sie denn schon einmal überlegt, sich mit anderen Nachbarn oder Kulturleuten zu organisieren, selbst aktiv zu werden? „Ach, dafür sind wir doch viel zu wenige. Natürlich werde ich kämpfen, aber in ein paar Jahren wird es hier trotzdem zugehen wie in Disneyland Barcelona“, sagt sie und schaut hinab zum Tejo.

 

Setzen Volksparteien auf die Unterstützung linksradikaler Parteien, muss das nicht den Weltuntergang bedeuten

Den Aufbruch einer krisenerprobten Generation junger Menschen habe ich mir zwar anders vorgestellt. Die simple Rechnung „Aufschwung durch linke Regierung“ ist komplexer als angenommen und Bloco de Esquerda noch unsicher in seinem Verhältnis zur Investitionspolitik auf der einen und Europa auf der anderen Seite. Trotzdem kann man – mal aus der deutschen Perspektive betrachtet – festhalten: Eine linke Partei, die sich von historischem Altlasten lossagt und einen betont zukunftsgewandten, jungen Kurs fährt, kann Erfolg haben. Und: Setzen Volksparteien bei ihrer Regierungsbildung auf die Unterstützung linksradikaler Parteien, muss das nicht den Weltuntergang bedeuten, den in Deutschland viele SPDler fürchten, die sich vor rot-roten Optionen sperren. Dem vermeintlich jungen, linken Neuanfang abseits der Austerität fehlt es in Portugal aber noch an Gestaltungswillen, einem klaren „ja“ zu Europa und an echter Nähe zu den jungen Menschen selbst.

 

Tatsächlich könnte Lissabon ein ähnliches Schicksal erwarten, wie die katalunische Hauptstadt am anderen Ende der Halbinsel. Wer an einem Julitag in Barcelona am Placa Catalunya aussteigt, hofft auf das Gegenteil. Auf den Ramblas, die Wochen später zum Anschlagsziel eines Terroristen werden sollten, herrscht fröhliches Gedränge wie auf dem Münchner Oktoberfest. Hat man sich einmal hindurchgequetscht zur Stadtteilverwaltung am Plaça del Bonsuccés, trifft man dort auf eine Frau, die es nicht beim Klagen belassen hat und versucht, ihre Vorstellung einer besseren Stadt zu verwirklichen: Gala Pin Ferrando, 36, Kurzhaarschnitt und Knopfaugen, Stadträtin für den Altstadt-Bezirk und Teil des Bündnisses Barcelona en Comú, das 2015, nur ein Jahr nach seiner Gründung, ins Rathaus eingezogen ist.

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Gala Pin Ferrando in ihrem Büro in der Altstadt von Barcelona.

Foto: Quentin Lichtblau

Wie auch die 2014 gegründete Podemos-Partei ist Barcelona en Comú ein Kind der Anti-Austeritäts-Proteste der 15M-Bewegung von 2011 und 2012. Fern von den traditionellen Volksparteien, der konservativen PP und der sozialistischen PSOE, entstand hier auf den besetzten öffentlichen Plätzen der Großstädte ein neues Verständnis von Basisdemokratie, das sich über die Besetzungen hinaus in Initiativen und lokalen Gruppen fortsetzte. „Zu Beginn der Krise dachten wir noch: Das wird böse enden, Spanien hätte ohne Frage auch nach weit rechts abdriften können“, sagt Pin, die in ihrem riesigen Büro auf den ersten Blick noch etwas verloren wirkt. Die 15M-Bewegung habe es aber geschafft, den Frust der Menschen nicht in destruktivem Fremdenhass verenden zu lassen, sondern den Fokus auf die ihrer Meinung nach tatsächlich Verantwortlichen zu legen: die eingerosteten Institutionen, eigensinnige Politiker, Banker, Geschäftsmänner. 

 

Pin selbst hat sich damals, wie auch die jetzige Bürgermeisterin Ada Colau, gegen die von Banken veranlassten Zwangsräumungen eingesetzt. „Irgendwann haben wir gemerkt, dass wir unsere Anliegen mit direkten Aktionen, Verhandlungen mit den Banken oder Unterschriftensammlungen einfach nicht durchsetzen können. Uns wurde klar: Wenn wir tatsächlich etwas ändern wollen, müssen wir in die Institutionen selbst.“

 

Nur ein knappes Jahr vor der Kommunalwahl stellte sich die Bürgerplattform in den Räumlichkeiten einer Schule der Öffentlichkeit vor, damals noch ohne echtes Wahlprogramm. Um den Wunsch nach Veränderung zu „testen“, sammelten die Aktivisten für ein erstes Manifest 30000 Unterschriften und traten danach in Verhandlungen anderen Parteien und Gruppen, um möglichst viele Stimmen auf der Plattform zu vereinen. „Wir wollten endlich dem Klischee entgegentreten, dass Linke sich immer zerstreiten und spalten müssen“, sagt Pin.

 

„Das ist linke Politik, aber eben viel näher am Alltag der Menschen und ohne den abgehobenen Klassenkampf-Pathos“

 

Solange eine Partei, Intitiative oder Nachbarschaftsgruppe dem von der Plattform festgelegten „ethischen Code“ und den grundlegenden Ideen des Manifests zustimmte, konnte sie Teil der Plattform werden. Der ethische Code soll die Transparenz, Rechenschaftspflicht und vorgeschriebene Rotationen innerhalb der Plattform regeln. „Die 15M-Bewegung hatte auch immer diesen Hacker-Spirit der ‚distributed work‘, wir wollen eine Bewegung ohne zentralen Ort und ohne zentrale Ideologie sein.“ In jedem Viertel Barcelonas gibt es nun regelmäßige Asembleas, offene Diskussionsrunden über Probleme im Viertel. Dazu noch themenspezifische Runden, zu Wohnungsbau, Tourismus oder historischem Bauerbe.

 

Dieser Ansatz setze Barcelona en Comú auch von der klassischen Linken ab, findet Pin. „Natürlich sind wir im Kern links, auch wenn wir uns das nicht auf die Fahnen schreiben: In meinem Bezirk kämpfe ich für Sozialwohnungen, gegen die Investoren, für das Recht auf einen non-kommerziellen öffentlichen Raum. Das ist linke Politik, aber eben viel näher am Alltag der Menschen und ohne den abgehobenen Klassenkampf-Pathos.“

 

Und was sind die konkreten Pläne? Pin holt aus, fragt „wie viel Zeit hast du?“ Bereits beschlossen: Keine neuen Hotels in der Altstadt, die Einrichtung von „Schutzzonen“ in denen die ursprüngliche Nachbarschafts-Struktur erhalten bleiben soll. Dazu autofreie Blocks, harte Verhandlungen mit AirBnB und anderen Unternehmen, die im Zweifelsfall vollständig aus Barcelona verbannt werden sollen. Im Rathaus selbst eine Reform der Institutionen, ein Korruptions-Kummerkasten, mehr Transparenz, weniger Vetternwirtschaft. Und auch wenn ihre Vorstellungen einer anderen Stadt noch oft nach Revolutions-Zukunftsmusik klingen: Die Aktivstin Pin ist nun Stadträtin, sie kann sie tatsächlich umsetzen.

 

Auch deshalb bekämen sie und ihre Kolleginnen regelmäßig zu spüren, wie unerwünscht Barcelona en Comú bei den altgedienten Stadtpolitikern sei: „Die meinen, dass wir hier einfach nicht sitzen sollten und geben uns mit jedem Blick zu spüren: Dieser Ort ist nicht für euch gemacht. Ihr seid zu jung, zu idealistisch, zu weiblich.“ Bei einer der ersten Sitzungen sei sie anstatt per Handschlag mit einem Kuss auf die Stirn begrüßt worden, „wie ein Kind“.

 

Trotz der Widerstände ist Pin überzeugt, dass das Modell von Barcelona en Comú ein Vorbild sein kann – und zwar für ganz Europa. „Das 21. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Städte. Wir brauchen Menschen, die ihre Stadt selbst in die Hand nehmen und vor Ort an den Problemen der Menschen ansetzen.“ Ihre Utopie für Europa: Ein Netzwerk von „rebel cities“, regiert von linken Plattformen, die untereinander ihr Wissen austauschen. In Spanien funktioniere das bereits, man stehe im regen Austausch mit artverwandten Initiativen in Madrid, Zaragossa, Valencia, Santiago oder Tarragona. Warum sollten nicht auch Berlin, München und Hamburg dazustoßen? „Die Probleme und Lebenswelten sind schließlich überall sehr ähnlich. Ein Berliner mit einem Einwohner Barcelonas oder Lissabons womöglich mehr gemein, als mit seinen Landsleuten in den umliegenden Bundesländern“, meint Pin. 

Ein paar Kilometer bergauf, im Viertel Gracia, sitzt einer, der nicht an die Geduld seiner Landsleute glaubt. Cristian Subirà, 36, DJ, gebürtiger Katalane und Betreiber eines Independent-Radios, sieht sich als symbolisch-politischen Menschen, der seine der Hardcore-Szene entsprungenen DIY-Haltung lieber durch Vans-Sneakers Ausdruck verleiht, als durch ein Parteibuch. Obwohl er mit seiner Radiostation ganz im 15M-Spirit an einem nachbarschaftlichem Netzwerk, einem nonkommerziellen Treffpukt für gleichgesinnte Kulturschaffende arbeitet, ist er nur bedingt optimistisch, was die neue Stadtregierung betrifft. Seine Prognose: „In vier, maximal acht Jahren wird Barcelona en Comú aller Wahrscheinlichkeit nach politisch tot sein“.  

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Christian Subira in seinem Radio-Studio im Stadtteil Gràcia.

Foto: Quentin Lichtblau

In der Minderheitsregierung werde das Bündnis niemals die gigantischen Erwartungen erfüllen können. Die breite Masse hält Subirà für zu ungeduldig, um dem basisdemokratischen Vorhaben die nötige Zeit zu geben. „Das Problem ist ja: Die Gegenseite, die Konservativen, die haben eine Hierarchie. Die diskutieren nicht rum, können Colau angreifen, bevor die überhaupt ihre Position zu einem Thema geklärt hat“, sagt Subirà, während er in seinem winzigen Studio das Equipment herunterfährt. Außerdem beschäftigten sich die Leute gerade viel zu viel mit dem angestrebten Unabhängigkeitsreferendum in Katalunien, für Subirà eine „irrelevante Nebensache“. Barcelona en Comú meidet das Thema weitgehend, vielleicht wegen eben dieser Unschlüssigkeit innerhalb des Bündnisses. Offiziell verteidigt die Plattform die Option auf ein Referendum, nicht aber einseitige Alleingänge.

 

Wie seine Kultur-Kollegin Alexandra Vidal in Lissabon fühlt sich Subirà auch persönlich alleingelassen. Die Subkultur verschwände aus der Stadt, die Clubs passten ihr Programm nach und nach dem Touristen-Massengeschmack an.

 

Von der neuen Regierung habe er sich Unterstützung erwartet, eine kulturelle Förderung. Bisher hätten aber nur politisch nahestehende Kulturschaffende Gelder erhalten, Subirà spricht vom „alten amigismo“, den „kleinen Gefallen“, die Politiker ihren Freunden machen. „Das liegt hier leider in der menschlichen Natur, anscheinend auch bei den Idealisten“, sagt er und fährt sich durch den Vollbart.

 

Trotzdem hält er den neuen Ansatz für wichtig, sagt Subirà. Zumindest herrsche nun eine andere Stimmung in der Stadt. Die Bürger fingen an zu begreifen, dass in einer gelebten Demokratie jede Stimme einen Wert hat. Es gäbe nun weniger platte Beschwerden, weniger keifende Wutbürger.

 

„Wenn das alles scheitert, können wir immerhin noch sagen: Wir haben es versucht“

 

Während sich auf der Straße unter uns gerade die Menschen aus aller Welt auf der Suche nach dem bestbewerteten Tapas-Restaurant ihre Akkus leergooglen, erzählt Subirà von einem Experiment eines befreundeten Theatermachers: Vier Vorstellungen lang präsentierte er den Zuschauern ein Glas Bohnen, für deren Anzahl jeder eine Schätzung abzugeben hatte. „Manche haben 20 gesagt, andere 2000. Beide wurden vom jeweils anderen für verrückt gehalten“. Am Ende aber sei die durchschnittliche Schätzung relativ genau bei der tatsächlichen Anzahl an Bohnen geendet. „Mir gefällt dieses Prinzip. Wenn die neue Regierung ihren Ansatz am Ende doch durchhält, können wir Entscheidungen vielleicht auf genau diese Art treffen. Irgendwann vielleicht auch in ganz Europa. Und wenn das alles scheitert, können wir immerhin noch sagen: Wir haben es versucht.“

 

Wenn man gerade noch mit einer jungen Spaniern über ein europäisches Netzwerk von Rebellenstädten philosophiert hat, wird man beim Anblick von München im Landeanflug schlagartig sehr müde. Für bezahlbaren Wohnraum in der Altstadt kämpft hier schon seit Jahrzehnten keiner mehr. Warum eigentlich nicht? Muss man erst nach Spanien fahren, um zu sehen, was die eigene Stadt bereits aufgegeben hat, bevor man überhaupt auf der Welt war? Andererseits: Aktivistinnen wie Gala Pin haben mir auch berichtet, dass sie von ihrem Erfolg nach einem knappen Jahr selbst völlig überrascht waren. Die Verwirklichung einer deutschen „rebel city“ könnte also trotz der momentanen Narkose-Stimmung näher liegen als vermutet.

 

Auch in Spanien hatte keiner meiner Gesprächspartner jemals den „Pulse of Europe“ vernommen. In Deutschland hört man hingegen auch noch nicht allzu viel vom neuen Wind in Spanien. Wo es uns Deutschen an Zukunftsvisionen mangelt, die mehr wollen, als einmal im Monat EU-Flaggen zu schwenken, scheint es auf der Iberischen Halbinsel trotz guter Ideen im Kleinen noch an Europa-Euphorie zu fehlen, was nach Jahren der Austerität zwar verständlich, aber auch gefährlich ist.

 

Denn auch wenn in Südwesteuropa die Zeichen gerade auf links stehen: Ein Aufgeben des europäischen Gedankens, auch aus linker Perspektive, hilft langfristig nur den schlecht gelaunten Spaltern von rechts außen. Damit unser wackeliger Kontinent aber nicht implodiert, sollten wir in Kontakt bleiben. Oder: Den Staub wegpusten. Gemeinsam Bohnen schätzen. Und am Ende vielleicht einen Milchreis nach europäischem Rezept kochen. 

 

Diese Reportage ist als Teil des Agora Project 2017 mit Unterstützung des Journalistennetzwerks hostwriter entstanden.

 

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