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Typisch deutsch gibt es nicht mehr
Der Nachbar meckert wegen zweier Schuhe im Treppenhaus, der Kirchenaustritt braucht unendlich viele Formulare, dafür schließt die Kneipe um Punkt Elf. Und der Deutsche? Findet das „typisch deutsch!“.
Ein Witz wird nicht verstanden, eine Unmoral angeprangert, eine Regel angemahnt? Jemand ist zu umständlich, zu korrekt, zu prinzipiell? Etwas dauert zu lange, kostet zu viel, gefällt zu wenig? Typisch deutsch! Sobald irgendwo ein zu viel an Bürokratie, Ordnungsliebe, Regeltreue entdeckt wird, wenn sich wieder einmal jemand kleingeistig, humorlos oder einfach nur doof verhält, dann ist das Nationale plötzlich wichtig. Das topologische Stigma vom typisch deutschen greift überall, wo jemand es gerne bunter, großzügiger, lockerer oder einfach nur anders hätte.
Dabei ist heute wenig so umstritten und vielfältig wie das angeblich so eindeutig Deutsche. Vermutlich gelten wir weiterhin weltweit als fleißige Bienchen, die etwas steif, aber berechenbar ihr Leben abarbeiten. Doch es hat sich auch einiges an unserem Image verändert. Oder besser: aufgefächert. Auch, weil wir tun, was wir können: akribisch daran arbeiten. Wir zeigen uns als das „Land der Ideen“ und weltoffene Gastgeber, lächeln und werben, bewirten und besuchen.
Die Botschaft kommt an. Deutsche gelten zwar oft noch als herrisch und humorarm, aber ihre funktionsbekleideten, viersprachigen Abgesandten auch als höflichste Touristen, ihre diplomatischeren Politiker als größte Europäer. Deutschland scheint zwar einerseits fast zu ordentlich, seine Hauptstadt Berlin andererseits als irre spannende Kreativkapitale.
Wir sind viele: Deutsche können Auto, aber auch Techno, verteidigen am Hindukusch und zaubern am Zuckerhut, beten zu Jesus und Allah und Jahwe, haben die mp3-Datei und den Döner erfunden, können also grätschen und spielen, planen und träumen, leben und leben lassen.
Der Deutsche in der Version 2016 kann feiern, aber auch aufstehen.
Auch wegen dieser Ambivalenzen hat die Frage nach dem typisch deutschen momentan besonders Konjunktur. Die einen wollen das vermeintlich Deutsche schützen – und es deswegen erstmal engstirnig eingrenzen. Sie sagen: Deutsch ist das, was wir sind – und alle anderen haben kein Recht darauf. Aber gleichzeitig kommen viele andere genau für das zu uns, was nämlich sie für typisch deutsch halten: Demokratie. Wohlstand. Toleranz. Angela Merkel. Poldi. Jeden Morgen frische Brötchen. Frieden.
Vielleicht gibt es das ja gar nicht mehr: „typisch deutsch“? Vielleicht gab es das nie? Und vielleicht ist „typisch deutsch“ heute etwas ganz anderes, als alle denken?
Identität, zumal eine kollektiv-nationale, ist immer eine Konstruktion. Aber eine mächtige. Wir sind, was wir glauben zu sein. Und diese Erwartungen an uns selbst, die zur selbst erfüllenden Prophezeiung werden können, haben sich verändert.
Denk ich an Deutschland in der Nacht, meine ich zu erkennen, dass es heute viel lockerer und bunter und großzügiger als früher ist. Und damit viel weniger „deutsch“ als manch andere Länder. Die wiederum aufgeholt haben in den guten deutschen Kardinaltugenden Disziplin, Genauigkeit, Fleiß. Wenn wir hingegen unsere Slacker und Messies und Assis anschauen, sind die Deutschen inzwischen genau so oft chaotisch und eigensinnig wie andere.
Die althergebrachten kulturellen Selfies treffen immer weniger zu, falls sie das jemals taten. Und wenn, dann schätzen wir sie. „Hier funktioniert wenigstens alles“, sagen genau 99 Prozent der Rückkehrer aus Urlaub, Erasmus-Semester oder Auswanderungsabenteuer. Wenn es um Rolltreppen und Handwerker geht, ist uns Verlässlichkeit dann auf einmal heilig. Sie müssen fahren und werkeln, da sind wir empfindlich, da kennen wir unsere DIN-Normen.
Aber solche positiven Aspekte „typisch deutsch“ zu nennen, würde uns Identitätsmasochisten nicht einfallen. Was einerseits recht sympathisch anmutet. Dass Nationalstolz hierzulande immer noch Randsportart ist, darf gerne so bleiben. Aber andererseits, im Umkehrschluss per larmoyanter Verplattung nur die Fehler als Made in Germany zu markern, das nervt halt auch.
Neulich saß ich einem typisch deutschen ICE, zweite Klasse, und plötzlich gab es einen "außerplanmäßigen Halt". Die Feuerwehr musste zu einem Einsatz auf die Gleise vor uns ausrücken, ein großes Gebäude direkt an den Schienen brannte. Meine Sitznachbarin hörte die Durchsage, schnaufte einmal demonstrativ und sagte tatsächlich: "So etwas gibt es auch nur in Deutschland."
Vielleicht ist genau das ja das einzig wirklich typisch deutsche Verhalten: Alles, was einem nicht gefällt, als „typisch deutsch“ zu verdammen. Eine reflexhafte Jammerei über die eigene Verkrampftheit, die letztlich nur unsere hilflose Suche nach Identität zeigt. Weil „typisch deutsch“ fraglicher denn je ist, einigt man sich auf den kleinsten gemeinsamen Nerv-Nenner. Und vergisst, wie viel weiter das Land und seine Leute längst schon sind. Wo genau, weiß man nicht. Ist aber auch egal. Immer alles ganz genau bestimmen zu wollen, ist typisch... ach, egal.
Höchste Zeit also, mal so richtig typisch deutsch sein. Und diesen sprachlichen Unrat namens „typisch deutsch“, natürlich sauber getrennt, auf den Müll zu werfen.