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Macht Ehrlichkeit die Liebe besser?
Es gibt Menschen, die behaupten, Geheimnisse täten einer Beziehung gut. Sehr viele Menschen. „Man muss nicht alles voneinander wissen“, sagen sie, und ich finde das plausibel. Bis mir meine Freundin Paula ein Buch in die Hand drückt. „Lies das!“, sagt sie. „Es verändert alles!“ Radikal ehrlich – verwandle dein Leben, sag die Wahrheit. „Was für ein Schwachsinn“, denke ich. Gut, Paula hat das vielleicht nötig, schließlich schiebt sie es schon seit Monaten vor sich her, ihrem Freund von ihrem Seitensprung zu erzählen. Ich bin ehrlich. Meilenweit von den mir von der Statistik attestierten, täglichen 200 Lügen entfernt. In meiner Beziehung sowieso, es ist schließlich eine offene. Da steht Ehrlichkeit am Anfang von allem. Höchstens in der größten Not greife ich zur Lüge, als Selbstverteidigungsmaßnahme, sozusagen. Seltenst mal eine kleine Convenience-Lüge, wenn ich Unannehmlichkeiten vermeiden will! Und nur ganz manchmal spare ich halt was aus, wenn Schweigen edler erscheint. Aber das zählt ja wohl nicht, oder?
Doch, doch, findet der Autor: Lügen fingen da an, wo wir etwas zurückhalten, was unser Gegenüber betrifft. Unsere Geheimnisse machten uns krank und hinderten uns daran, authentische Beziehungen zu führen. Weil wir uns eben nicht als diejenigen zeigten, die wir wirklich sind. Sofort fühle ich mich ertappt. Meine Beziehung mit André ist spitze. Aber klar, Luft nach oben ist immer. Schließlich leben wir jetzt seit sechs Jahren zusammen, da schleicht sich ein gewisser Trott ein. Und dann gibt es seit einigen Wochen noch Marcus, in den ich mich ganz entgegen meiner Gewohnheit ganz schön verguckt habe. Die beiden kennen sich nicht, aber sie wissen voneinander – und sind ganz entspannt damit. Zwei verschiedene Männer, zwei verschiedene Beziehungsstadien. Und die große Frage: Macht Ehrlichkeit die Liebe besser? Mein Kopf will es wissen. Mein Herz schlägt wie verrückt. Wie das wohl ausgeht?
Tag 1
Heute kommt André aus dem Urlaub wieder. Eine Woche unter Palmen nur für sich, das hatte er sich schon ewig gewünscht. Ein guter Tag, um mit dem Selbstversuch zu starten, schließlich ist nach einer Woche Getrennt-Sein eh alles auf Anfang. Vorsichtshalber habe ich ihn per WhatsApp vorgewarnt und gefragt: „Hältst du das aus?“ – „Klar“, meinte er. „Was soll schon passieren?“ Ja, was?
Ich freue mich wie bekloppt auf ihn, schaffe es aber wegen eines langen Meetings nicht zum Flughafen. Atemlos rase ich die Treppe zu unserer Wohnung hoch und reiße mit einem Strahlen auf dem Gesicht die Tür auf. Da steht er: übellaunig, zerknautscht und … fett! Nein, natürlich nicht richtig fett, aber das, was vor dem Urlaub ein kleiner, charmanter Bauchansatz war, wölbt sich nun deutlich vergrößert hervor. Mein Puls ist sofort bei 5000. Das mit der Ehrlichkeit ist ja schön und gut, aber kann ich das jetzt sagen? Er hasst mich eh schon, weil ich ihn nicht abgeholt habe. Gleich wird er mich noch mehr hassen. Es wird ihn verletzen. Es wird ...
Einatmen. Ausatmen. Alles im Dienste der Wissenschaft. Endlich: „Dein Bauch ist irgendwie größer geworden, finde ich.“ Wider Erwarten grinst André. „Klar. Ich hab gefressen wie ein Schwein. Willste mal anfassen?“
Was? „Bist du gar nicht sauer, wenn ich dir sowas sage?“ „Nö, wieso? Wenn es doch stimmt.“ Okay, so einfach kann es sein. Hätte ich das mal früher gewusst.
Fazit: Ehrlich sein ist halb so schlimm. Mehr davon!
Tag 2
Unser Frühstück zieht sich über Stunden, schließlich ist viel passiert in dieser Woche. André kommt aus dem Schwärmen für seinen Solo-Urlaub nicht mehr raus. „... und weißt du was?“, schließt er, „Ich hab dich überhaupt nicht vermisst.“ Peng!
„Aua!“, schreit mein Herz und meine Hand verpasst seinem Bauch einen Hieb. André lacht. „Hey, du dachtest doch nicht im Ernst, du bleibst die Einzige, die ehrlich ist?“ Das Ausmaß meiner Naivität ist enorm: Tatsächlich habe ich nicht einen Gedanken daran verschwendet, dass er den Spieß rumdrehen könnte. Und dann auch noch mit so etwas Garstigem.
Wieso ist es überhaupt so, dass er mich nicht vermisst? Er soll mich vermissen, verdammt! So gehört sich das in einer ordentlichen Beziehung!
Inzwischen ist es Mittag, und wir köpfen eine Flasche Wein, um über die Theorien zu sinnieren, die wir so über „ordentliche Beziehungen“ haben. Und stellen fest: Theorien sind Bullshit. Er hatte halt eine schöne Zeit ohne mich. Und ich ohne ihn. Jetzt freuen wir uns, wieder zusammen zu sein. Das ist unsere Beziehung. Punkt.
Fazit: Ehrlichkeit bringt uns zum Nachdenken über uns und unsere Beziehung. Top!
Tag 3
Das Ehrlichsein gefällt mir. Jetzt, wo ich weiß, dass ich alles sagen kann, ohne, dass es eine Beziehungskrise auslöst, werde ich von einer regelrechten Euphorie erfasst: Endlich alles sagen können! Den lieben langen Tag haue ich alles raus, was mir durch den Kopf geht. Ich finde Andrés Lese-Sessel hässlich und schlage vor, ihn zu ersetzen. Ich finde, er könnte das Bett machen, wenn er aufgestanden ist. Ich will nicht zu dieser Party, auf der wir beide erwartet werden. Aber vor allem: Ich denke an Marcus. Also, ich denke nicht nur an Marcus, ich spreche es auch aus. So im Zwei-Minuten-Takt. Bis André findet, ich könnte jetzt auch mal die Klappe halten. Ganz ehrlich.
Fazit: Zu viel Ehrlichkeit nervt. Aber wo verläuft die Grenze?
Tag 4
After-Sex-Cooking mit Marcus ist großartig: Er kocht und ich gucke zu, während ich an meinem Aperitif nippe. Dabei formt sich in meinem Kopf ein Gedanke, den ich jedem anderen Menschen unter normalen Umständen verbieten würde. Jedenfalls in diesem sensiblen Stadium. Schließlich ist unsere Liebelei noch frisch und ungewiss. Aber Challenge ist Challenge, also sage ich, wie es ist: „Ich will dich in meinem Leben behalten.“
Erst verschluckt Marcus sich an seiner Pasta, dann sagt er: „Warum fordern die Leute ständig Verbindlichkeit? Das Leben ist unberechenbar.“
Ab hier geht es nur noch bergab. Man kann die Mauer zwischen uns förmlich hochfahren sehen. Unser Appetit versiegt, das Gespräch ebenso. Kein Sex mehr. Leider bin ich inzwischen zu betrunken, um nach Hause zu fahren. Mein letzter Gedanke vor dem Einschlafen: „Es hat so schön begonnen zwischen uns ...“
Fazit: Ehrlichkeit kann bitter enttäuschen. Auf allen Seiten.
Tag 5
Marcus sagt, er habe die ganze Nacht Panikattacken gehabt. Zu nah, zu schnell, zu was weiß ich was. Keiner spricht es aus, aber wir beide wissen: Das hier ist ein Ende mit Schrecken. Dieser Ehrlichkeits-Scheiß macht mir alles kaputt! Hätte ich meine Klappe gehalten, würden wir jetzt zusammen Kaffee trinken und uns dabei verliebt zublinzeln. Stattdessen fällt die Tür hinter mir ins Schloss, so schnell kannste nicht gucken. Morgengrau und zittrig stehe ich auf der Straße, keine Ahnung, wohin mit mir. Und dann weiß ich es: Nicht die Ehrlichkeit ist schuld. Sie hat nur heute schon auf den Weg gebracht, was nächste Woche (oder die darauf) ohnehin passiert wäre.
Am Abend gehe ich einen trinken, so wie es sich gehört nach einer fetten Pleite. Der Typ, mit dem ich schon seit Wochen flirrende Blicke tausche, wo immer wir uns begegnen, ist auch da. Er müsste zuerst rüberkommen. Macht er aber nicht. „Jetzt ist eh alles egal. Ehrlichkeit rules!“, finde ich, gehe hin und sage, was ich will. Unser Date nächste Woche steht übrigens.
Fazit: Ehrlichkeit ist der Katalysator fürs Zwischenmenschliche. Kann wehtun. Oder guttun. Weiß man halt vorher nicht.
Tag 6
Nach so viel Aufregung ist ein ruhiger Abend mit André genau das richtige. Netflix und Chillen, und das in der Langzeitbeziehung – entspannter kann es gar nicht sein. Doch als es dann zur Sache geht, stellt sich dieses dumpfe Gefühl wieder ein, das mich schon seit einer Weile begleitet: Ich will es anders. Das, was wir da so routiniert angehen, weil es uns vor einer halben Ewigkeit angemacht hat, ist es nicht mehr für mich. Bisher habe ich diese Tatsache meisterhaft ignoriert. Immerhin ist Sex ein sensibles Gebiet, und ihm gefällt es schließlich, und es ist ja auch nicht so, dass ich nicht kommen würde … jetzt aber bricht es mit einer solchen Wucht über mich herein, dass ich mittendrin innehalte.
„Alles okay?“, fragt André.
„Nee … Das ist mir zu hart grade. Können wir bitte weniger ,ficken‘?“
André mault. Auch wenn er behauptet, es so überhaupt nicht machen zu müssen – ein kritisches Gespräch über Sex beim Sex ist kein Spaziergang, aber wir kriegen es hin: Wir einigen uns darauf, dass wir beide mal drauf gestanden haben und fangen noch mal von vorne an. Diesmal ist es richtig gut. Erst als wir am Ende Arm in Arm daliegen, merke ich, was ich all die Zeit mit mir rumgeschleppt hab. Es ist raus! Halleluja!
Fazit: Ehrlichkeit befreit. Aber sowas von.
Tag 7
Diese Woche macht mich fertig. So viele emotionale Hochs und Tiefs auf einem Haufen hatte ich das letzte Mal in der Pubertät – dieser Zeit, in der ich jeden Tag bereit war, vom Hochhaus meines Vertrauens zu springen.
Ehrlich zu anderen zu sein ist höllisch anstrengend. Permanent muss ich mein Inneres auf Gefühle und Gedanken sondieren, die ich normalerweise für mich behalten würde. Dann gibt es da die ständige Paranoia vor der Reaktion meines Gegenübers. Und die muss ich im Zweifel auch noch aushalten können. Das ist das Schwerste: Damit klarkommen, dass André rummault. Oder Marcus eine Mauer baut. Ehrlichkeit löst nicht nur Probleme. Sie schafft auch welche.
Gleichzeitig gibt es nichts, das ich bereuen würde. Nichtmal den verkackten Abend bei Marcus. Weil ich mich so gezeigt habe, wie ich eben bin. Und wenn das nicht das ist, was er erwartet, kann man es gleich in die Tonne kloppen. Auch wenn mir seitdem drei Mal täglich die Tränen kommen.
Wie gut, dass ich heute für mich bin. André hat ein Projekt in einer anderen Stadt, Marcus ist abgetaucht. Ich stelle den Flugmodus ein, wegen der Nachrichtenflut von dem Typen aus der Bar. Nein, ich bin nicht unehrlich, ich schreibe es ihm vorher wie es ist: „Ich brauche mal ne Sendepause.“
Stille. Tag sieben.
„Danke, Gott, falls es dich gibt, dass jetzt ein Ende hat!“, jauchze ich innerlich. Gleichzeitig weiß ich: Ich werde damit weitermachen.
Fazit: Ehrlichkeit ist eine komplexe Angelegenheit. Have a break.
Am nächsten Morgen bin ich zur Auswertung mit Paula verabredet.
„Gib zu, dass jetzt alles anders ist“, fordert sie.
„Schon“, muss ich einräumen. „Marcus ist auf und davon. Dafür hab ich jetzt den Jahrtausend-Sex mit André. Und so einen Typ, dessen Namen ich dauernd vergesse.“
„Aber es ist auch besser, so insgesamt gesehen?!“
Ich muss ein wenig nachdenken. Die Hätte-hätte-Fahrradkette macht ein paar Umdrehungen. Eigentlich ist es sogar schlimmer. Weil aufreibender. Anstrengender. Fordernder. Und gleichzeitig ist es der Beziehungs-Himmel: André fühle ich mich so verbunden wie seit Ewigkeiten nicht. Weil alles gesagt werden, alles sein darf. Weil wir uns zeigen, statt die Rollen weiterzuspielen, die wir uns irgendwann mal zugewiesen haben.
Für sowas muss man bereit sein. Marcus mochte die Vorstellung von mir lieber als das, was darunter lag. Vielleicht kannten wir uns einfach noch zu kurz, um so ehrlich loszulegen. Aber andererseits: Wenn nicht jetzt, wann dann?
Ehrlichkeit treibt alles auf den Gipfel, das Schöne und das Schreckliche. Ehrlichkeit sorgt für Tiefe. Und weil ich ein intensives Beziehungsleben einem seichten vorziehe, sage ich schließlich: „Ja. Es ist alles besser.“
Anmerkung: Dieser Text wurde zum ersten Mal am 18.05.2017 veröffentlicht und am 11.01.2020 noch einmal.