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Leben ohne Smartphone
Alles begann an dem Tag vor zwei Jahren, an dem mein Smartphone im Fluss abtauchte. Ich hatte mir gerade den Rucksack auf den Rücken geschwungen, da hörte ich nur noch ein leises „Plopp“. Kleine kreisförmige Wellen bildeten sich in Ufernähe und ich betete, dass das gerade nicht mein Handy war. Nach intensivem Durchsuchen meiner Tasche stellte sich aber heraus: War es wohl! Ich war verzweifelt und sauer auf mich selbst: Mein zweites Gehirn, mein Sprachrohr, mein einziges Fotoalbum – alles versenkt.
Die nächsten drei Tage kehrte ich immer wieder zurück an den Ort des Geschehens, an die Unfallstelle, sozusagen. Ich war ausgerüstet – erst mit einem Kescher, dann mit Schwimm- und Taucherbrille. Wenigstens die Speicherkarte, hoffte ich, könnte ich noch retten. Die Passanten lachten über meine frühherbstliche Badevorliebe im trüben Wasser voller Entenexkremente – bis sie erfuhren, wonach ich da tauchte. Dann nickten sie, denn sie wussten, was auf dem Spiel stand.
Am vierten Tag ohne Handy entdeckte ich mein Schamgefühl wieder und gab auf. Ich deutete den unglücklichen Verlust als Zeichen, dass Smartphones und ich einfach nicht zusammenpassen. Außerdem war es auch spannend: Wie lange könnte ich wohl ohne Handy überleben?
Die ersten Wochen waren hart. Ich hatte keine Armbanduhr und orientierte mich jetzt nur noch an den Kirchturmuhren im Ort. Mir fehlten die Musik im Ohr und das Nachrichtenlesen, wenn ich in der Bahn oder im Wartezimmer saß. Familie und Freunde verzweifelten an meiner Unerreichbarkeit und ich hätte gerne jemanden angerufen, nachdem ich mich öffentlich blamiert hatte. Plötzlich war ich ganz weit weg für alle und sie auch für mich.
Dafür öffnete sich eine neue, alte Welt, also die, die ich schon fast vergessen hatte. Auf einmal fing ich wieder an, Bücher zu lesen, klingelte unangekündigt an Haustüren, nur um mal Hallo zu sagen und schaute beim Zugfahren aus dem Fenster. Was ich fotografieren wollte, malte ich. Situationen, die ich gerne gefilmt hätte, schrieb ich in einem Notizbuch als Anekdoten auf.
Mein Verzicht wird zum Vorteil
Seit ich kein Smartphone mehr habe, sind meine Mitmenschen, vor allem die fremden, nicht mehr einfach nur „da“. Das Leben bietet sich mir an, echt und unsortiert, denn ich sehe jetzt nicht mehr nur empfohlene Beiträge. Ich lausche fremden Gesprächen und sauge ihre Geschichten in mir auf, höre Freunden besser zu. Es reicht mir, die Nachrichten erst abends zu lesen, denn ich merke: Die Welt dreht sich auch ohne meine Mitwisserschaft weiter. Das Schlafen fällt mir leichter, weil das Handy nicht mehr stündlich neben mir vibriert. Ich finde es lustig, wenn meine Freunde Selfies von sich machen oder ihr Essen fotografieren. Denn plötzlich fehlt mir das Verständnis dafür, dass jeder Moment der wirklichen Welt in eine digitale übertragen werden muss. Dass es oft wichtiger ist, alles Gute im Leben zu dokumentieren, als es wirklich zu genießen.
Nur noch bei ganz großen Angelegenheiten kommen Freunde und Familie auf mich zu, um mich um Rat zu fragen. Ich muss keine Tipps mehr geben, was Clara jetzt Toni auf sein „Was machst du heute Abend?“ antworten soll, was meine Schwester zur Party tragen oder was meine Mutter zum Familientreffen kochen könnte.
Gleichzeitig bin ich jetzt aber auch auf mich selbst gestellt, weil mir schlicht die Technik fehlt, um meine Lieben einfach mal um Hilfe zu bitten. Wenn ich mich ausgesperrt habe und unsere WG-Klingel streikt, werfe ich vergeblich Kieselsteine gegen die Fenster und wandere dann zur Wohnung meines Vermieters.
So erlange ich auch Fähigkeiten, von denen ich nicht wusste, dass sie in mir stecken: Ganz ohne Navigationssystem und MVG-App komme ich zum Ziel - sogar pünktlich. Ich rechne Beträge im Kopf zusammen und merke mir meine Termine ohne digitalen Kalender. Ich verabrede mich, wenn ich Menschen auf der Straße begegne und habe nicht die Möglichkeit, kurzfristig abzusagen und mich davor zu drücken. Ich übernehme endlich Verantwortung für meine eigene Organisation.
Meine Persönlichkeit wächst an dem Mangel. Ich fühle mich nicht nur schlauer, ich fühle mich gefestigt. Ich habe herausgefunden, dass ich auch ohne die Wissens- und Kommunikationsflut in meiner Hosentasche, wissen und kommunizieren kann. Mein Selbstbild hängt nicht mehr von einer Maschine ab, die mich mitzählen lässt, wie vielen Bekannten mein Profilbild gefällt. Ich finde heraus, wer mich wirklich auf seinen Partys dabei haben will oder wer mich vergisst, weil man mich nicht mehr im WhatsApp-Verteiler anklicken kann. Kontakt halte ich mit den wenigsten Bekannten, denn ich schreibe nur noch selten - von zu Hause über Facebook. Eltern, Freund und Hausarzt rufe ich von den Telefonen anderer an, wenn es unbedingt nötig ist.
Kein Smartphone für die Zukunft
Oft haben meine Mitmenschen versucht, mich zu bekehren. Sie finden, dass das nicht geht, so ganz ohne, dass es nicht in die Zeit passt, dass ich doch viel zu viel verpasse, wenn ich nicht ständig auf dem Laufenden bin. Aber mein Verzicht auf die ständige Erreichbarkeit ist jetzt eben kein Unfall mehr, sondern eine Entscheidung, die inzwischen zu meinen Prinzipien gehört. Sie hat mich stärker gemacht.
Nach zwei Jahren ohne Smartphone ist mein Studentenleben vorbei und ich gebe zu, dass die anderen trotzdem nicht ganz Unrecht hatten: Ich muss mir aus beruflichen Gründen ein Handy zulegen - ohne eine Telefonnummer scheitere ich schon im Bewerbungsverfahren.
Rechtzeitig zum "Alte-Handys-sind-cool"-Trend habe ich also ein Nokia in Betrieb genommen, das nur das Nötigste kann. Mit ihm muss ich mich nicht mehr rechtfertigen, schließlich macht mich das jetzt hip und mein Leben bequemer. Es klingelt, um mich zu wecken, meine Kollegen können mich erreichen und ich kann anrufen wen und wann ich will. Trotzdem fehlt mir nichts, wenn ich es mal zu Hause liegen lasse.
Der Tag, an dem mein Smartphone abgetaucht ist, war ein guter Tag.