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"Heimat ist ein Gefühl"

© Philipp Wente

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In seinem Buch Heimaterde spürt Lucas Vogelsang den großen Fragen unserer Zeit nach und erzählt, was Heimat für 20 sehr verschiedene Protagonisten bedeutet. Dabei führen seine Recherchen vom Ammersee bis nach Windhoek und einmal quer durch Deutschland. 

Lucas Vogelsang, 31, schreibt für die Welt am Sonntag. Für eine Reportage über seinen Block im Wedding wurde er mit dem Hansel-Mieth-Preis ausgezeichnet, daraus ist die Idee zu diesem Buch entstanden.

jetzt: Der Begriff „Heimat“ ist ja im Zuge von identitären Bewegungen und AfD Politik zu so einem Unwort geworden, dass man es gar nicht benutzen mag. Trotzdem erzählt jede der elf Geschichten in deinem Buch davon.  

Lucas Vogelsang: Das Wort selbst ist für mich nicht belastet, weil ich gerne in Deutschland lebe. Und es ist eben meine Heimat. Da ist es dann auch egal, ob und wie irgendwelche Bewegungen das gerade instrumentalisieren. Und ich spiele dann ja auch absichtlich mit diesem Begriff, der vielen so typisch deutsch vorkommt. Schließlich  passen meine Protagonisten auf den ersten Blick gar nicht in dieses Holzschuh-Deutschland mit Alpenromantik.   

Auf den zweiten Blick aber schon?

Ja. Bei Heimat denkt man halt erst mal an das Bierzelt in Bayern. An einen urdeutschen Raum. So einfach, so klar ist es dann aber doch nicht. Die Schwarzwaldsängerhalle in Pforzheim etwa ist das beste Beispiel dafür: Da serviert ein Jeside Knödel, der vor dreißig Jahren aus der Türkei geflohen ist und sich heute um irakische Jesiden kümmert. Wenn man sich da an einen der Tische setzt, ist man doch gleich mittendrin in diesem Begriff "Heimat". Mitten im Trachten-Deutschland. Und klar wirft das dann auch die Frage auf, was dieses "deutsch sein" überhaupt bedeutet. Damit spielt dieses Buch. Im besten Fall ist es also ein Trojanisches Pferd.      

Was meinst du damit?

Wenn mein marokkanischer Protagonist mich fragt: Verstehst du, was ich meine? Da sage ich: Nein. Ich bin ein 31-jähriger weißer Mann, der in Berlin aufgewachsen ist. Ich bin kein Migrationserklärer, der mit erhobenem Zeigefinger große Thesen aufstellt. Ich habe mein eigenes Nicht-Verstehen immer zum Thema gemacht.  Weil ich ja höchstens versuchen kann, diesen Biografien empathisch nachzuspüren. Das Buch dreht sich deshalb auch nicht um mich. Ich hatte das große Glück, im letzten Jahr auf 20 grandiose Geschichtenerzähler zu stoßen, die alle sehr unterschiedliche Geschichten erzählen: Geschichten, die eben am Ende doch alle irgendwie dieses Gefühl in sich tragen. Heimat. So hat sich dann auch der Titel entwickelt.  

Der Berliner Wedding, wo du selber wohnst, ist so ein Knotenpunkt, von dem aus sich alle Geschichten entwickeln. Kommen die Geschichten aus deinem eigenen Alltag?

Nicht aus meinem Alltag, sondern aus dem meiner Nachbarn. Den Begegnungen mit ihnen. Die Reportage, aus der schließlich das erste Kapitel in Heimaterde wurde, habe ich über meinen Wohnblock geschrieben und daraus ist dann mehr entstanden. Die wichtigsten Geschichten waren für mich schon immer die vor der Haustür. Die Nachbarn, der Schrebergarten, die Eckkneipe. Ich wollte aber kein Berlin-Buch schreiben. Man muss sich das Buch viel eher als Pflanze vorstellen, dann ist der Wedding die Zwiebel, aus der die Geschichten wachsen, deren Blätter sich schließlich über ganz Deutschland legen. Der Wedding ist ein Figurentheater, das ist Deutschland im Kleinen. Hier findest du den türkischen Nachbar, der AKP wählt, die Araber, die mit den neuen Flüchtlingen fremdeln. Den Terror im Hinterhof, die schlechte Moschee, aber auch die Bemühungen, hier wirklich anzukommen. Deshalb beginnen die Geschichten hier. Weil hier schon alles angelegt ist.

Das Kapitel über die Nordvietnamesen in der DDR ist zum Beispiel durch ein Gespräch mit meiner Blumenfrau nebenan entstanden, die selbst vor 30 Jahren mit dem Arbeitsvertrag gekommen ist. Mal ging das über eine, mal über mehrere Ecken. Vom Block in die Welt.

Du hast deine Reise im Sommer 2015 begonnen, als sehr viele Flüchtlinge nach Deutschland kamen. War das tatsächlich der Anlass für deine Reise?

Nicht wirklich, ich wollte kein Flüchtlings-Buch schreiben. Davon gibt es genug. Und Deutschland ist ja nicht erst seit dem Sommer 2015 ein Zuwanderungsland. Meine Fragestellung war: Was ist mit denen, die seit 30 oder 50 Jahren schon hier sind? Die, die jetzt in Vergessenheit geraten oder plötzlich doch wieder ins Bewusstsein drängen, etwa wenn es um aktuelle Fragen zur Türkei geht? Ich wollte Biografien finden, die sich in einem Dazwischen bewegen. Identitäten, die sich nicht so einfach definieren lassen.

Zum Beispiel?

Der Jeside mit der Schwarzwaldsängerhalle. Der schwäbelt so hart, dass ich ihn manchmal nicht verstanden habe. Das ist doch großartig. Klar ist durch 2015 eine Verdichtung von Stimmungen passiert und die Frage danach, wer wir sind, ist dringender geworden. Aber um diese zu beantworten, muss ich nicht ins Flüchtlingsheim gehen. Das kann mir doch ein junger Marokkaner, der sich in dritter Generation als Bestatter um die korrekte Beisetzung von Muslimen kümmert und nebenbei noch CDU-Mitglied ist, viel besser erklären.

Welche Begegnung hat dich am meisten berührt? 

Ich bin mit einer Gruppe jesidischer Männer in Pforzheim Fußball gucken gegangen, habe danach bei denen geschlafen und wurde morgens mit Frühstück geweckt. Wir waren so sehr in Eile, da ich den Zug nach Berlin erwischen musste, dass wir kaum Zeit hatten. Dem Hausherrn war es dann so unangenehm, dass er mir keinen Tee mehr servieren konnte, dass er mir am Ende noch einen Kaffee am Bahnhof gekauft hat. Zum Abschied, Umarmung, meinte er: Sie haben für immer eine Heimat bei uns in Pforzheim. Das war sensationell! 

"Heimat ist, wo die Freiheit ist" oder "da, wo du mit deinen Jungs sein kannst", sagen Menschen in deinem Buch – Wie viele dieser Definitionen hast du noch gehört?

Sehr viele. Klar, das habe ich ja auch ein bisschen forciert. Heimat ist der Ort, der dir nicht egal ist. Wo man frei seiner Arbeit nachgehen kann. Heimat leuchtet. Heimat ist ein Ort in der Vergangenheit. Heimat ist ein Gefühl. Der Ort, an dem man sich wohlfühlt.

Und mit welcher Definition kannst du mitgehen?

Heimat ist ein Gefühl. Aber die anderen sind auch total wahr. Es gibt eine Erkenntnis, die ich von dieser Reise mitgenommen habe: Die Grenze verläuft nicht zwischen Türken und Deutschen oder Christen und Muslimen. Viel eher geht es um Gemeinsamkeiten, einen ähnlichen Blick auf die Welt. Um Erziehung und Kultur. Bei mir am Block wohnen Alewiten und Sunniten, die trinken morgens gemeinsam ihren Tee und sagen: Klar, wir sind ja Demokraten. Alles ganz normal. Und wenn sich der deutsche Handwerker mit seinem Kaffee dazu setzt, dann fangen sie an über Fußball zu sprechen. Oder über die Kinder. Weil sie sich einen Alltag teilen, etwas, das sie verbindet. Nachbarschaft. Hier im Wedding gibt es ein Wort dafür: Mahalle. Hass und Rassismus, das habe ich gelernt, hat nichts mit der Nationalität zu tun. Deshalb habe ich am Ende auch kein Buch über das Deutschsein geschrieben, sondern darüber, wie man Heimat in Deutschland findet, wenn die Wurzeln in einem anderen Land liegen.   

Geschichten über dieses Finden sind oft auch Geschichten über Rassismus.  

Überrascht dich das?

Nee. Aber man weiß manchmal gar nicht mehr, was man denken soll, wenn da plötzlich der Russlanddeutsche, selbst mit migrantischer Biografie, in Pforzheim in seinem Wahlkreis 50% der Stimmen für die AfD einholt. Und dir dann erzählt, die Neuankömmlinge sind ein Problem.

Genau um diese Widersprüche geht es mir ja. Meine Fragestellung ist immer: Wie kommt einer zu diesem Punkt? Ich verurteile die Leute nicht, ich will ihre Biografien verstehen. Es wäre ja auch anmaßend, wenn ich da als dreißigjähriger Reporter bewerten würde, warum ein Fünfzigjähriger heute so lebt, wie er lebt. In dieser individuellen Geschichte etwa, bei dem Russlanddeutschen, war es am Ende aus seiner Sicht heraus total schlüssig, dass der jetzt als Direktkandidat für die AfD in den Bundestag will. Weil er als Kind und Jugendlicher, als Teil einer christlichen Minderheit in Kasachstan,  immer wieder ganz harte, ganz unangenehme Erfahrungen in der Konfrontation mit den Muslimen gemacht hat. Ihn haben diese Konflikte, die Kämpfe auch, geprägt. Ich muss diese Weltsicht nicht teilen, aber ich muss als Reporter erst einmal mit ihm auf seine Welt schauen, oder aus seiner Welt heraus auf Deutschland, darum geht es mir.

Soll dein Buch da auch so ein bisschen Aufklärungsarbeit leisten?

Das kann es, aber ich will nicht missionieren. Das Buch ist für uns, für den Zeitgeist und für die Leute, die gerade selber nicht wissen, wo es hingeht. Am liebsten würde ich damit in alle Schulen Deutschlands fahren. Aber nicht, um dort mit dem Zeigefinger zu wedeln, sondern weil ich glaube, dass wir zu sehr in einer Zuspitzung von Radikalität und Fremdsein leben, ohne wirklich miteinander zu reden. Wenn sich alle diese Protagonisten aus meinen Geschichten und die Leser mal begegnen, löst das mehr als jede Debatte.

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