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"Wie kann es nicht richtig sein, wenn es mit Liebe getan wurde?"

Foto: © Megan Cline

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Als Emma Cline, damals 25, im Gartenhaus eines Freundes in Brooklyn, in dem sie wohnte, ihr Buch vollendete, ahnte sie sicher nicht, was in den kommenden zwei Jahren damit passieren sollte: Dass sich zwölf Verlagshäuser einen erbitterten Kampf darum liefern werden. Dass es ihr einen Deal mit Random House über zwei weitere Bücher und einen Vorschuss im siebenstelligen Bereich einbringen würde. Dass die Rechte an "The Girls" direkt in mehr als 30 Ländern verkauft werden. Dass die Filmrechte bereits gesichert werden, bevor es überhaupt erscheint – immerhin von Scott Rudin ("Die Asche meiner Mutter", "Der Vorleser", "Grand Budapest Hotel", "Steve Jobs" – um nur einen Bruchteil zu nennen). Und dass Lena Dunham darüber sagen wird: "This book will break your heart and blow your mind."

1996, San Francisco: Die 14-jährige Evie Boyd wartet. Wartet darauf, dass die Jungs sie wahrnehmen, auf die erste Liebe, den ersten Sex. Darauf, dass das Leben endlich auch ihr passiert. Darauf, nicht mehr 14 zu sein. Als sie an diesem Nachmittag drei jungen Frauen im Park sieht, hat das Warten ein Ende. "Diese langhaarigen Mädchen schienen über allem zu schweben, was um sie herum geschah, tragisch und abgehoben. Wie Fürstinnen im Exil (...) Ich war in einem Alter, in dem ich andere Mädchen sofort taxierte und ständig Buch darüber führte, woran es mir fehlte, und ich sah auf Anhieb, dass die Schwarzhaarige die Hübscheste war. Damit hatte ich gerechnet, noch bevor ich ihre Gesichter hatte erkennen können."

Emma Clines Debütroman "The Girls" erzählt die Geschichte dieser Evie. Die der 14-jährigen Evie, die zur hübschen Suzanne in den schwarzlackierten Schulbus steigt und sich von ihr zur Ranch des Sektenführers Russell leiten lässt. Und die der erwachsenen Evie, die weder einen Job hat noch einen Ort, an den sie gehört, und die niemals vergessen können wird, was passiert ist.

Die Coming-of-Age-Story zieht eindeutige Parallelen zum Fall der Manson Family, einer Sekte, die der Musiker Charles Manson Ende der 1960er in San Francisco um sich bildete. Sein manipulatives Talent übertraf sein musikalisches bei Weitem. Damit schaffte er es, eine Gruppe junger Frauen mit psychischer und physischer Gewalt, Sex und Drogen gefügig und abhängig von ihm zu machen. Die Geschichte der Sekte fand ihr grausames Ende in mehreren brutalen Morden, die Manson von seinen Jüngern, allen voran Susan Atkins, 1969 ausführen lies. Manson verbüßt bis heute in Kalifornien eine lebenslange Haftstrafe. Atkins, die 19 Jahre alt war, als sie die hochschwangere Schauspielerin Sharon Tate tötete und mit ihrem Blut "Pig" an die Tür ihrer Villa schrieb, ist mittlerweile in Haft gestorben. In einem Lied zitiert die Punkband Alkaline Trio, was Atkins vor Gericht über ihre Taten sagte: "How could it not be right, when it is done with love?"

Die grausam-faszinierende Geschichte der Sekte wurde bereits in vielen Büchern aufgriffen, doch "The Girls" ist anders. Emma Cline geht es nicht hauptsächlich darum, wie der Kommunenführer seine Jünger verführen konnte, wie sie alles für ihn getan haben, obwohl oder vielleicht sogar weil er sie be- und misshandelte wie Leibeigene, obwohl er mit Kindern handelte, sie für Geld prostituierte oder für seine Belustigung erniedrigte. All das spielt in Clines Buch eine Nebenrolle. Ihrer Manson-Figur gesteht sie nicht die volle Grausamkeit zu. Manson war ein Rassist, der die Morde anordnet, um einen Bürgerkrieg zwischen der seiner Meinung nach wertlosen schwarzen und der weißen Bevölkerung zu provozieren, aus dem er als gottähnlicher Herrscher hervorgehen sollte. Russel dagegen ist lediglich ein untalentierter, an Selbstüberschätzung leidender Musiker, der einzig sein gekränktes Überego rächen will.

Wenn man damit kämpft, sich selbst zu definieren, aber Definition in jedem anderen sucht, außer in sich selbst.

Obwohl auch Evie sich in seinen Bann gezogen fühlt, verfällt sie nicht ihm, sondern Suzanne. Was auch immer sie für ihn tut oder ihn tun lässt – es ist alles für das Mädchen mit den schwarzen Haaren. Alles für einen Blick, eine Berührung, eine Bestätigung ihres Bundes. Etwas, das ihr versichern würde: Auch, wenn es nicht so aussieht, wir sind die, die mit den anderen spielen. Die mit ihnen machen können, was wir wollen.

Emma Cline bietet in diesem Setting und anhand der Obsession, die Evie für Suzanne entwickelt, einen eindrucksvollen Einblick darin, wie es ist, als Mädchen aufzuwachsen. Wenn man noch nicht bereit ist, so erwachsen zu sein, wie man sich fühlt. Wenn das Wichtigste ist, dazuzugehören, zu jemanden zu gehören. Wenn man damit kämpft, sich selbst zu definieren, aber Definition in jedem anderen sucht, außer in sich selbst. 

"Ich wartete darauf, dass jemand mir sagte, was gut an mir war. Später fragte ich mich, ob das der Grund dafür war, dass es auf der Ranch viel mehr Frauen als Männer gab. All die Zeit, die ich darauf verwendet hatte, mich vorzubereiten, die Artikel, die mich gelehrt hatten, dass das Leben eigentlich nur ein Wartezimmer war, bis einen jemand bemerkte – diese Zeit hatten die Jungs damit verbracht, sie selbst zu werden."

Cline schafft es in der Perfektion ihrer Worte, der Eindringlichkeit ihrer Beobachtungen, der Direktheit ihrer Darstellung, mit wenigen Worten zu sagen, was Kapitel füllen könnte. Ihr genügt ein Satz, um zu beschreiben, wie die Mädchen in ihrer kindlichen Unaufgeklärtheit die Frage nach ihrer Sexualität stellen, ohne bereit für die Antwort zu sein. "Wir leckten an Batterien, um einen metallischen Schlag in der Zunge zu spüren, der angeblich ein Achtzehntel so stark war wie ein Orgasmus."

"The Girls" ist ein Roman, der seine Fingerspitzen genau soweit in das Dunkel des Menschseins taucht, dass es einen schaudern lässt – man sich aber nicht abwendet. Die Besessenheit von Russel und vor allem Suzanne, die selbst die grausamsten Taten nicht heilen können, hält einen als Leser nicht davon ab, empathisch zu jeder Zeit bei Evie zu bleiben. Evie, die mit 14 kein Kind mehr sein wollte, und dann Dinge erlebte, die ihr die Jugend nahmen und ihr gleichzeitig für immer verwehrten, ihr zu entkommen. 

"Suzanne und die anderen waren auch Mädchen gewesen, und geholfen hatte das niemandem."

"The Girls" erscheint am 25. Juli nun endlich auch in Deutschland. Wer die Möglichkeit hat, sollte Clines gefeierten Roman trotzdem in der englischen Originalversion lesen.

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