Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Der Pass muss her!

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Beim letzten Amtstermin hatte ich Birkenstocksandalen mit weißen Socken an. Meinen Platz im Warteraum hatte ich mit einem weißen Handtuch besetzt. Jetzt trage ich eine Trachtenjacke, ein blau-weiß kariertes Hemd und einen bayerischen Jägerhut und sitze mit 41 anderen Neudeutschen im Plenarsaal der Bezirksverordnetenversammlung Neukölln, wo ich auf meine Einbürgerung warte. Zwei Musiker spielen ein Potpourri aus 18 Nationalhymnen – die Hymnen der Staaten, deren Staatsbürgerschaft aufgegeben werden musste, um die deutsche zu erhalten. Alle zwei Wochen findet ein solcher Festakt in Berlin-Neukölln statt, bei dem bis zu 50 Personen aus aller Welt zu Deutschen gemacht werden. Pro Jahr werden hier etwa 1000 Personen eingebürgert.  

Um die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten, muss man acht Jahre lang in Deutschland leben, die Sprache sprechen, seinen Lebensunterhalt selbstständig bestreiten können und darf keine Vorstrafen haben. Wer einen Schulabschluss in Deutschland gemacht hat, muss keine Sprach- oder Integrationstests machen. 

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Frisch eingebürgert: Krsto trinkt auf die deutsche Staatsbürgerschaft.

„Ich erkläre hiermit, dass ich das Grundgesetz und die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland achten und alles unterlassen werde, was ihr schaden könnte.“ Einige haben diesen Satz auswendig gelernt, andere lesen ihn von dem eingeschweißten gelben Zettel ab, den der Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky ihnen vor die Nase hält. Ich kann ihn auswendig, sage ihn auf der Bühne laut auf und lasse mir die Einbürgerungsurkunde überreichen. Buschkowsky gibt uns noch ein paar Ratschläge mit auf den Weg: „Man kann streiten oder die Meinung des anderen abscheulich finden, aber wir diskutieren das so, dass keiner im Anschluss im Gesicht ein Pflaster braucht.“ Er erklärt, dass niemand das Recht hat, einem anderen das Leben zu nehmen, dass die Kinder in der Schule den Lehrern zuhören sollten, dass wir nett zu unseren Nachbarn sein sollen.  

Die Veranstaltung ist für mich wie eine kleine Zeitreise zurück in die Hauptschule. Damals stand vorne auch ein alter deutscher Mann und sprach mit uns, als seien wir ein bisschen dumm. Wir, das waren die Hauptschulkinder. Die Empfehlung für die weiterführende Schule in Baden-Württemberg hatte gefühlt mehr mit der Sprachkompetenz der Lehrer zu tun als mit der der Schüler: Wenn der Lehrer den Namen des Kindes ohne Probleme aussprechen konnte, dann kam es aufs Gymnasium. Konnte der Lehrer den Namen nach einigem Bemühen aussprechen, dann reichte es noch für die Realschule. Ich glaube immer noch, dass ich auf der Hauptschule gelandet bin, weil in meinem Vornamen das „I“ zwischen dem „R“ und dem „S“ fehlt. Für Kristo wäre es vielleicht noch die Realschule geworden. Aber Krsto? Vier Konsonanten hintereinander? Hauptschule!  

Ich wollte auf die Realschule und meine Noten hätten ausgereicht, aber beim Elternabend erklärte der Lehrer meinem Vater, die Hauptschule sei die bessere Option für mich. Mein Protest dagegen blieb wirkungslos und ich verbrachte ein Jahr auf der Hauptschule, zwei auf der Realschule und wechselte dann aufs Gymnasium. Ich kenne also alle drei Schulformen und mein Verdacht hat sich bestätigt: Während man auf der Hauptschule Kinder ohne Migrationshintergrund mit der Lupe suchen musste, war es auf dem Gymnasium genau andersherum.  

Nachdem „Multikulti ist gescheitert“-Bürgermeister Heinz Buschkowsky seine Rede gehalten hat und alle ihre Urkunden abgeholt haben, endet der Festakt mit dem gemeinsamen Singen der deutschen Nationalhymne. Die Beamten im Raum singen mit, während die Neudeutschen mehrheitlich schweigen. Für viele Deutsche ohne Migrationshintergrund müssen solche Szenen als Beweis herhalten, dass man kein guter Staatsbürger sein kann – so wie Jérôme Boateng, Lukas Podolski und Mesut Özil, die schweigen, wenn vor den Spielen das deutsche Vaterland besungen wird. Aber ich werde ja nicht Deutscher, weil ich die Nationalhymne liebe, sondern weil der deutsche Pass einer der besten der Welt ist. Man kann mit ihm in 172 Länder der Welt reisen, ohne sich vorher um ein Visum kümmern zu müssen. Nur mit einem Pass aus Schweden, Finnland und dem Vereinigten Königreich geht noch mehr. Mit meinem bosnischen Pass konnte ich lediglich in 91 Staaten einfach einreisen, meine kosovarischen Freund dürfen ohne Aufwand sogar nur 38 Länder besuchen. 

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Krsto beim Amtstermin. Stilecht.

Ich lebe seit 1992 in Deutschland, damals war ich drei Jahre alt. 1996 sollten wir in die Ruinenlandschaft abgeschoben werden, die der Bosnienkrieg von meinem Heimatland übrig gelassen hatte. Mein Vater hat sich bis zum obersten Gerichtshof in Karlsruhe geklagt, sodass wir 1999 eine richtige Aufenthaltserlaubnis bekamen, befristet auf zwei Jahre. Erst 2007 habe ich einen Stempel in meinen Pass bekommen: „Aufenthaltserlaubnis unbefristet“. Das war kurz nach meinem 18. Geburtstag. Bis dahin bestand noch die Möglichkeit, dass ich abgeschoben werde. Diese Unsicherheit kann einen ganz schön fertig machen. Es war aber auch im Alltag oft nervig bis erniedrigend, weil man als Mensch zweiter Klasse behandelt wurde.  Die Orte, an denen mir persönlich immer am deutlichsten wurde, welche Macht der Pass, dieses Büchlein mit gerade mal 32 Seiten über einen Menschen ausübt, waren zum einen die Flughäfen. Es gibt eine Schlange für EU-Bürger und eine für nicht EU-Bürger. Während ich manchmal noch in der Schlange stand, waren Kollegen oder Freunde oft schon in der Innenstadt oder zu Hause.  

Zum anderen waren es die Grenzen. In der achten Klasse machten wir einen Ausflug nach Usedom, an einem Tag war geplant, nach Polen zu fahren. Mein türkischer Klassenkamerad Bilal und ich erfuhren erst an der Grenze, dass wir nicht einreisen durften. Von unseren Lehrern gab es Ärger, weil wir uns nicht um ein Visum gekümmert hatten. Der Stress für ein Visum wegen eines Tagesausflugs? Da stimmt die Kosten-Nutzen-Kalkulation einfach nicht. Bilal und ich blieben also auf deutscher Seite und vertrieben und die Zeit mit den Freuden, die das Leben zwei Vierzehnjährigen bietet: Wir saßen am Strand, hörten Thrash Metal und rauchten, während unsere Klassenkameraden heimlich billigen Schnaps auf der anderen Seite der Insel kauften. 

Ich hatte oft Probleme mit Visa und Grenzkontrollen. Der Kragen ist mir vergangenen Februar geplatzt. Mein kleiner Bruder wurde 16 und meine Mutter wollte ihm ein Wochenende in London schenken. Ich sollte mitfliegen, mit ihm die Stadt anschauen und wohl darauf aufpassen, dass er nicht in eine Kneipenschlägerei gerät. Dumm nur, dass Großbritannien nicht Mitglied im Schengenraum ist und ich für eine Einreise dieselbe Prozedur durchmachen muss, wie jeder bosnische Staatsbürger – was bedeutet, dass es ohne guten Grund unmöglich ist, kurzfristig ein Touristenvisum zu bekommen. Sightseeing und eine Vorliebe für die Musikszene East Londons galten nicht als gute Gründe. Aus London wurde nichts. Und mir wurde klar: Der deutsche Pass muss her.  

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Noch stilechter: Sich den Warteplatz im Amt mit einem Handtuch reservieren.

Am 13. März 2014 reichte ich dafür folgende Unterlagen bei der Staatsangehörigkeitsbehörde in Neukölln ein: ein Bekenntnis zur freiheitlich demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland inklusive der Klausel, dass ich keine Bestrebungen verfolge, die auf die Abschaffung der BRD zielen, meinen Bafög-Bescheid, einen Nachweis über mein Einkommen, Studienbescheinigung, Einbürgerungsantrag, Geburtsurkunde im Original, Übersetzung der Geburtsurkunde, Praktikumsbescheinigung, Kontoauszug mit Bestätigung, dass ich die 191 Euro Gebühr überwiesen habe, Abiturzeugnis, Liste aller Aufenthaltsorte seit meiner Geburt und eine Bestätigung, dass ich bereit bin, mich von meiner bosnischen Staatsbürgerschaft zu trennen.  

Den bosnischen Pass musste ich abgeben, weil in Deutschland eine doppelte Staatsbürger-schaft nur in Ausnahmefällen möglich ist. Kürzlich wurde zwar ein Gesetz zur doppelten Staatsbürgerschaft verabschiedet, das räumt aber nur einem sehr ausgewählten Kreis das Recht darauf ein: denjenigen, die seit der Geburt zwei Pässe besitzen, denjenigen, die in Deutschland aufgewachsen sind, und denjenigen, die nach 1990 geboren wurden. 

Mein erster Termin im bosnischen Außenministerium, bei dem mir erklärt wurde, wie ich zu verfahren habe, um meinen Pass abzugeben, war im Mai des vergangenen Jahres. Der bosnische Staat ist ein Monster – zwei autonome Landesteile, 10 Kantone, das Sonderverwaltungsgebiet Brčko-Distrikt, drei Präsidenten für drei Volksgruppen. Die Verwaltung gilt als korrupt und frisst zwei Drittel des Staatshaushaltes.  Zuerst musste ich nach Sarajevo, um Informationen einzuholen, und dann nach Zvornik, weil ich dort gemeldet bin. Normalerweise wartet man dort wochenlang auf seine Papiere, außer man hat zufällig einen Onkel bei der Behörde. Ich traf meinen morgens auf einen Kaffee und bekam die Dokumente noch am selben Tag. Geburtsurkunde und Bescheinigung über meine Staatsbürgerschaft musste ich in meiner Geburtsstadt Tuzla abholen. Mit diesen Papieren stellte ich in Sarajevo meinen Antrag auf Ausbürgerung. Dann wartete ich in Deutschland zwei Monate, bis die Ausbürgerung gültig war, und erteilte bei der bosnischen Botschaft in Berlin meiner Freundin Maida die Vollmacht, meinen Pass in Sarajevo abzugeben. Damit Maida Vollmacht und Pass bei der Post abholen konnte, musste sie drei Tage mit Behördengängen verbringen. Sie wurde fast verrückt. „Krsto“, sagte sie, „da sind sechs Stempel auf diesem Stück Papier, die ich alle woanders holen musste – und der sechste ist nur eine Bestätigung darüber, dass der erste auch wirklich echt ist!“ Es dauerte insgesamt acht Monate von meinem Antrag bis zu meiner Einbürgerung. Zwischendurch hatte ich drei Monate lang überhaupt keinen Pass und konnte nirgendwohin.  

Eine Woche nach dem Festakt in Berlin-Neukölln ist es soweit: Am 9. Dezember hole ich den deutschen Pass beim Bürgeramt ab. Normalerweise dauert es länger, bis er fertig ist, aber ich habe einen Expresspass beantragt, weil ich endlich wieder Ausweisdokumente haben will. Ich wiege das kleine rote Büchlein in der Hand, es ist sehr leicht, vorne drauf prangt der Adler. Im Hinterkopf habe ich noch den Handschlag von Heinz Buschkowsky und seine guten Ratschläge – das alles ist jetzt kein Witz mehr. Dieser Wisch also hat mich Zeit, Nerven und rund 1200 Euro gekostet. 

Es hat lange gedauert, bis ich Deutscher geworden bin, zumindest auf dem Papier. Ich hatte nie den Wunsch, ein echter Deutscher zu sein. Aber ich hätte den Pass trotzdem gerne früher gehabt. Damals zum Beispiel, in der achten Klasse. Und ich hätte meinen bosnischen Pass gerne behalten, obwohl ich gar nicht besonders an ihm hänge. Und ich hätte auch gerne auf diesen ganzen bürokratischen Irrsinn verzichtet. Denn eigentlich wollte ich nur die Rechte wahrnehmen können, die den meisten anderen in diesem Land selbstverständlich sind.  

Jetzt genieße ich aber erst mal meine neu erworbene Reisefreiheit. Schließlich will das London-Wochenende mit meinem Bruder nachgeholt werden.

Text: krsto-lazarevic - Fotos: Ruben Neugebauer

  • teilen
  • schließen