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Mehmet sollte für den IS töten

Illustration: Katharina Bitzl

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Eigentlich dachte Mehmets Vater, er würde nie wieder in ein Flugzeug steigen. Er flog nicht gern, hatte es lange nicht getan. Dann meldete sich Mehmet. Aus Syrien. Aus einem Lager der Terrorgruppe Islamischer Staat. Er hatte nur einen Wunsch an seinen Vater: Hilf mir, hier rauszukommen. Mehmets Vater stieg in ein Flugzeug.

Mehmet ist noch keine 20 Jahre alt und heißt eigentlich anders. Seinen wahren Namen darf man nicht schreiben, wie auch einige andere Details seiner Geschichte. Denn er ist einer der wenigen, die es geschafft haben, einen Weg zurück zu finden: raus aus Syrien, raus aus dem IS, raus aus Gewalt und Wahnsinn. Stünde sein Name hier, könnte das für ihn gefährlich werden. IS-Aussteiger werden oft bedroht. Und es würde erschweren, was Mehmet sich so sehr wünscht: ein normales Leben führen. In Ruhe. 

Deshalb spricht er auch nicht selbst mit jetzt. Thomas Mücke, schlank, Glatze, Typ erfahrener Streetworker, erzählt seine Geschichte. Er ist Gründer des „Violence Prevention Network“, einer Organisation, die Präventions- und Deradikalisierungsarbeit macht. Wenn Mücke über seine Arbeit spricht, tut er das sachlich und präzise. Man merkt: Mücke hat mit vielen jungen Menschen gearbeitet, bei denen sehr viel schiefgelaufen ist. 1989, als es in seinem Ort Stress mit Neonazis gab, bat er sie in einem offenen Brief um ein Treffen. So stand er am 20. April 1989, Hitlers 100. Geburtstag, an einem Lagerfeuer mit feiernden Nazis und diskutierte. Da merkte er: Man muss auch mit diesen Menschen reden, wenn man will, dass sich was ändert. Deshalb redet er auch mit Jungs wie Mehmet. Er versucht, sie wieder zurückzuholen. Sie der islamistischen Szene zu entreißen, bevor sie nach Syrien reisen und sich dort in die Luft zu sprengen. Oder ihnen zu helfen, aus dem Krieg wieder zurückzufinden – so wie Mehmet. 

Mehmet ist 17, als sein Weltbild und sein Leben in Richtung eines religiösen Fanatismus gedreht werden. Eigentlich ist er kein Klischee-Ziel der Radikalen, so wie einige der anderen etwa 750 jungen Menschen, die aus Deutschland in den Dschihad gereist sind: Er ist kein abgehängter Kleinkrimineller aus kaputtem Elternhaus. Seine Familie ist intakt, er ist kein übermäßig schlechter Schüler. Trotzdem ist er in einer Phase, in der er seinen Platz im Leben sucht. Er sucht eine Identität, etwas, an dem er sich festhalten kann, für das er brennen kann, wo er dazugehören kann. Nach allem, was man über die Rekrutierungsmaßnahmen der Islamisten weiß, setzen sie genau da an. Denn da muss man erst mal gar nicht viel tun außer: da sein. Für Mehmet sind sie da. „Man glaubt gar nicht, wie schnell diese Manipulation ging“, sagt er im Nachhinein. Es beginnt harmlos: neue Freunde, mit denen er Fußball spielt und bei denen er sich aufgehoben fühlt. Und die ihm etwas bieten, was er weder zu Hause noch in der Moschee bekommt: Dort konnte er nur beten und lauschen. In vielen Moscheen wird selten diskutiert, es gibt Generationenkonflikte. Wenn dann an der Bushaltestelle jemand mehr oder weniger Gleichaltriges die Jugendlichen in ihrer Sprache anspricht und sich ihnen zuwendet, ist das für die ein emotionaler Anknüpfungspunkt.

Bei Mehmet wirkt die Gehirnwäsche. Er fragt nicht nach Details. Er geht nach Syrien 

Seine neuen Freunde erklären ihm die Welt und den Islam aus ihrer Perspektive. Sie haben es leicht, denn obwohl er religiös ist, weiß er fast nichts über den Islam und den Koran. Sie sagen ihm immer wieder, dass seine muslimischen Brüder überall verfolgt, ermordet und vergewaltigt werden, und untermalen das mit Propagandavideos, in denen leidende Muslime zu sehen sind, denen Assad oder der Westen die Häuser zerbombt hat. Sie sagen, dass er als Moslem in Deutschland keine Chance hat und als wahrer Gläubiger nicht in einem säkularen Staat leben darf, weil die Demokratie ein Feind des Islam sei. Sie packen ihn bei seinem Gerechtigkeitsgefühl. Sie reden ihm ein, dass er seinen Brüdern und Schwestern in Syrien helfen müsse. Und sie bauen Druck auf: Wenn er nicht tut, was er als guter Moslem tun muss, ist er nicht besser als die Feinde des Islam. 

Man kann kaum glauben, dass das einen jungen Menschen dazu bewegt, sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Aber bei Mehmet greift die Gehirnwäsche. Er hört irgendwann auf, eigenständig zu denken. Er fragt nicht nach Details. Er vertraut seinen neuen Freunden und will sie nicht enttäuschen. Er geht nach Syrien. 

Über die Details dieser Reise kann auch Mücke nichts sagen. Er kennt sie nicht, denn manches, sagt er, wolle er gar nicht wissen. „Wir sprechen mit den Jungs über das, was wichtig ist, um sie zurückzuholen. Wir müssen uns da auch selbst schützen“, sagt er. Denn für IS-Rückkehrer interessieren sich auch die Sicherheitsbehörden und die Justiz. Und Mücke und seine Berater haben kein Zeugnisverweigerungsrecht wie ein Arzt, Anwalt oder Psychologe. Ein Gericht kann sie jederzeit vorladen. 

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Illustration: Yinfinity

An der Grenze holen Jeeps Mehmet ab und bringen ihn in ein Ausbildungslager. In solchen Lagern werden die Neuankömmlinge weiter indoktriniert. Sie bekommen Scharia-Unterricht, die IS-Ausbilder sprechen über Religion und religiöse Pflichten. Und sie befragen und testen die neuen Rekruten: Was hat sie nach Syrien getrieben? Wozu sind sie bereit? Wie weit würden sie gehen für das Kalifat? Danach wissen sie, wie sie die Nachwuchs-Dschihadisten einsetzen werden: als Kämpfer an der Front oder Selbstmordattentäter – oder als IT-Techniker oder Koch. Auch beim IS kann nicht jeder im Sturm spielen, auch hier braucht man Verteidiger und Zeugwarte, die den Stürmern die Stollenschuhe zusammenschrauben. Und es braucht Talentscouts, die erkennen, wer wofür geeignet ist.

So unvorstellbar das klingt: Mehmet merkt in dieser Zeit zum ersten Mal, dass es hier nicht nur darum geht, armen syrischen Familien zu helfen und zerstörte Häuser aufzubauen. Er ist eigentlich ein friedlicher, sanftmütiger Typ. Er ist nicht gekommen, um zu töten. Er hatte vorher keine Ahnung von der Brutalität und dem Hass, die ihn in Syrien erwarten würden. „Wir erleben ganz oft, dass die Jugendlichen all das ausblenden und erst realisieren, wenn sie mit dem Alltag vor Ort konfrontiert sind“, sagt Thomas Mücke. Auch wenn das gängige Bild des deutschen Islamisten das eines verhüllten Kämpfers mit Kalaschnikow ist: Es geht längst nicht allen darum, zu töten und einen Märtyrertod zu sterben. Manche kommen blauäugig und mit einigermaßen guten Vorsätzen: den von Assad unterdrückten muslimischen Brüdern und Schwestern beistehen. Kindern auf der Straße helfen. Aufbauhilfe powered by IS. 

Im Ausbildungslager aber ist der Krieg dann plötzlich deutlich spürbar. Mehmet merkt: Es geht auch ums Kämpfen. Um das Töten vermeintlich Ungläubiger. Er ist entsetzt von all der Gewaltverherrlichung. Fragt sich, wie es richtig sein kann, dass Muslime andere Muslime abschlachten. 

Und dann der entscheidende Moment: ein Gespräch darüber, wie man mit der eigenen Familie umgeht, wenn die nicht auch dem vermeintlich wahren Islam folgt. Für Mehmet war seine Familie immer ein Fixpunkt. Er hängt nach wie vor an ihr und denkt in der Zeit im Lager viel an seinen Vater. Der IS-Anhänger sagt zu Mehmet: „Wenn du meinem Vater den Kopf abschneiden würdest, würde ich dir die Hände küssen.“ Das ist zu viel. Ab jetzt will Mehmet nur noch weg. 

Die Mechanismen der Radikalisierung und ihrer Bekämpfung sind bei Neonazis und Salafisten dieselben

 

Kurz darauf klingelt in Deutschland nachts das Hotline-Telefon des Violence Prevention Network. Ein Hilferuf: Mehmet sei in Syrien und sein Vater in der Türkei, um ihn dort in Empfang zu nehmen, wenn er es schafft, den IS zu verlassen. So läuft das meistens: Angehörige oder enge Freunde rufen bei Beratungs-Hotlines an, weil sie verzweifelt sind und Angst haben, dass sich ihr Sohn, Freund oder Bruder radikalisiert oder radikalisiert hat. Und weil sie nicht wissen, was jetzt zu tun ist. Sie melden sich direkt bei Organisationen wie dem VPN oder bei der zentralen Hotline des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg. Es gibt sie seit 2012, drei Mitarbeiter sitzen hier im Erdgeschoss in ein paar kleinen Beamtenbüros mit Linoleumfußboden und warten auf Anrufer. Sie geben erste Hilfestellung und leiten die Fälle dann weiter an die NGOs, deren Mitarbeiter die Familien besuchen und beraten. 

 

Chef der Beratungsstelle ist Florian Endres, auch sein Büro ist denkbar unspektakulär. Im Regal stehen Aktenordner und Fachliteratur, auf dem Schreibtisch liegt eine Plastik-Brotzeitdose in Bananenform und -farbe. An der Wand hängen Werbe-Poster für die Hotline, ein Kalender und eine Deutschlandkarte. Endres deutet mit dem Kugelschreiber darauf herum und zeigt, wo die Organisationen sitzen, an die seine Berater die Anrufer weiterschicken. Sehr oft muss er nicht auf die Karte tippen: Berlin, Bremen, Niedersachsen, Hessen, ein paar Stellen in Nordrhein-Westfalen. Von flächendeckenden Angeboten kann keine Rede sein, und im Süden sieht es noch dünner aus. Aber es tut sich was: Seit den Anschlägen in Paris sind Themen wie Prävention und Deradikalisierung plötzlich nach oben gerückt auf der Agenda der Politik. Bestehende Budgets werden erhöht, immer mehr Bundesländer richten eigene Beratungsstellen ein, zuletzt Bayern und Baden-Württemberg. In Endres’ Team sitzen bald vier neue Mitarbeiter an den Telefonen, damit all die Anfragen bewältigt werden können. „Vor den Anschlägen in Paris riefen hier 15 Leute pro Woche an“, sagt er. „In den Wochen danach waren es 15 pro Tag.“ 

 

Viele der NGOs arbeiten schon lange mit Jugendlichen, die sich radikalisiert haben, vor allem im rechten Milieu. Sie nutzen die Erfahrung aus Aussteigerprogrammen für Neonazis und übertragen sie auf die radikalen Islamisten. Dass das so gut funktioniert, ist eigentlich schockierend. Denn es zeigt vielleicht am besten, wie wenig der Islamismus mit dem Islam, also mit einer Religion, zu tun hat: Die Mechanismen der Radikalisierung und ihrer Bekämpfung sind bei Neonazis und Neosalafisten quasi dieselben. In beiden Fällen lassen sich Jugendliche auf Sinnsuche mit ähnlichen Tricks in radikale Ideologien locken. Nur wettert der Hassprediger bei den einen gegen Ungläubige und bei den anderen gegen Einwanderer.

 

Am Tag nach dem Anruf bekommt Mehmets Mutter Besuch. „In solchen Situationen brauchen die Familien viel Unterstützung“, sagt Mücke. Emotionale Unterstützung vor allem, aber auch Hilfe bei der Kommunikation mit den Sicherheitsbehörden. Die müssen informiert werden, wenn der Fall „sicherheitsrelevant“ ist – und das ist automatisch der Fall, wenn jemand sich dem IS angeschlossen und damit eine terroristische Vereinigung unterstützt hat. Und natürlich geben Mückes Mitarbeiter den Familien praktische Hinweise, was jetzt zu tun ist und was auf keinen Fall: Wie man Kontakt hält, ohne dass der IS mitliest; denn das hätte fatale Folgen. Wie man die letzten Zweifel an einer Heimkehr bei dem Jugendlichen ausräumt. Wie man ihm die Angst vor den Konsequenzen in Deutschland nimmt, wo oft Untersuchungshaft und Strafverfahren drohen. Wie Angehörige dem Jugendlichen alle erdenkliche Hilfe bei der Ausreise aus Syrien anbieten können, ohne sich dabei selbst in Schwierigkeiten zu bringen. Also ohne zum Beispiel Geld an die falschen Leute zu überweisen, um den Jungen über die Grenze in die Türkei zu schleusen. Oder um ihn vom IS freizukaufen. „Auch das wäre Unterstützung einer terroristischen Organisation – und damit eine Straftat“, erklärt Mücke. 

 

Mehmet hat Glück. Er schafft es tatsächlich in die Türkei. Er trifft seinen Vater wieder und erst jetzt wird ihm klar, was er ihm und dem Rest seiner Familie angetan hat. Es tue ihm so leid, sagt er und gibt dem Vater das Versprechen, nie wieder nach Syrien zurückzukehren. Die Familie ist erleichtert, aber noch ist die Anspannung groß. Zu viel ist noch ungewiss: Drohen Mehmet rechtliche Konsequenzen? Kriegt er sein Leben überhaupt in den Griff?

 

„Das Wichtigste ist, die Aussteiger wieder selbst zum Denken zu bringen“, sagt Thomas Mücke. Während ihrer Radikalisierung wird ihnen das Fragenstellen ausgetrieben. Sie müssen gehorchen und tun, was Allah angeblich von ihnen fordert. Die Islamisten predigen alte, längst aufgehobene Offenbarungen, nach denen nicht nur die Sünde selbst, sondern schon das Denken daran eine Sünde ist. „So funktioniert Gehirnwäsche“, sagt Mücke. „Irgendwann traust du dich nicht nur nicht, Coca Cola zu trinken. Du versuchst, nicht mal daran zu denken.“ So gewöhnt man sich daran, dass jede noch so kleine Handlung vorgeschrieben ist. 

 

Deshalb tun Mücke und seine Berater das Gegenteil. Zwei Tage nach Mehmets Rückkehr setzen sie sich bei einem ersten Treffen mit ihm und seinen Eltern an den Tisch in deren Wohnung. Aber sie halten ihm keinen Vortrag, was für ihn und seine Re-Integration in die Gesellschaft jetzt das Richtige wäre. Sie fragen ihn zwei eigentlich simple, aber dennoch extrem wichtige Fragen: Was willst du jetzt tun? Worüber möchtest du reden?

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Illustration: Yinfinity

Mehmet ist aufgewühlt. Er hat selbst noch nicht reflektiert, wie das alles passieren konnte. „Die Jugendlichen brauchen oft erst mal Abstand und Zeit. Die werden in solchen Gesprächen zum ersten Mal mit der Frage konfrontiert, was sie in die Radikalisierung getrieben hat“, sagt Thomas Mücke. Auch Mehmets Eltern fragen sich das. Suchen eine Teilschuld bei sich, haben Angst, dass Mehmet ihnen ein weiteres Mal entgleitet. Der blickt während des Gesprächs oft zu Boden. Er schämt sich. 

 

Es wird schnell klar, was er jetzt will: seinen Schulabschluss machen. Und endlich Antworten auf seine religiösen Fragen, auf die die Islamisten ihm zunächst ihre radikalen und falschen Antworten gegeben hatten. 

 

An seiner alten Schule trifft die Idee zunächst auf wenig Begeisterung. Alle wissen, wo Mehmet war. Ein Dschihad-Rückkehrer ist für den Schulfrieden aus Lehrersicht nicht der ideale Neuzugang. „Da müssen wir als begleitende Berater dann Überzeugungsarbeit leisten“, sagt Mücke. Er führt Gespräche mit Lehrern und Schulleitung, versichert, dass Mehmet Hilfe hat – und dass er diese Chance will und braucht. „Die Gesellschaft muss solche Leute wieder integrieren. Sonst bewahrheitet sich, was die Islamisten ihnen immer gepredigt haben: dass sie nicht zurück können und in ihrer Heimat mit ihrer religiösen Identität keine Chance haben. Dann kann es auch passieren, dass sie sich wieder re-radikalisieren.“

 

Die Schule nimmt Mehmet auf – und sofort voll in Beschlag. Er stürzt sich in seine neue Aufgabe, sitzt viel am Schreibtisch und lernt. Um das Wissen der verpassten Wochen nachzuarbeiten und um die schlechten Noten auszugleichen, die er bekam, als Schule ihm gleichgültiger wurde und Allah wichtiger. Er spürt, dass er sehr viel Glück hatte, so eine Chance noch mal zu bekommen. Und er will sie nutzen.

Für die regelmäßigen Treffen mit Thomas Mücke und seinen Beratern hat er noch Zeit. Sie sitzen in Cafés und reden vor allem über Religion. Zwei der Berater sind Muslime und Theologen, ihr Wissen und ihre religiöse Autorität beeindrucken Mehmet. Er erfährt, dass der Prophet Mohammed selbst mit Juden Handel getrieben hat und dass viele der Verbote und Gebote der IS-Ideologie auf bruchstück- und damit fehlerhaften Koran-Interpretationen beruhen. Und allein die Tatsache, dass die Theologen mit Thomas Mücke, einem Atheisten, zusammenarbeiten, lässt das Weltbild, das die Islamisten Mehmet eingetrichtert haben, bröckeln. Nach und nach stellt er die Fragen, die aus seiner Radikalisierung und seiner Zeit beim IS unbeantwortet geblieben sind. Ob er als Moslem in einem säkularen Staat leben darf. Welche Haltung der Islam zu Gewalt hat. Was er über Respekt gegenüber den Eltern sagt. Wie die Gesetze der Scharia auszulegen und zu beurteilen sind.

 

Heute, mehr als ein Jahr nach seiner Ausreise nach Syrien, ist Mehmet ein ausgeglichener junger Mann. Er hat eine Ausbildung begonnen, ist viel unterwegs. Zu seinen alten Freunden hat er keinen Kontakt mehr. Er geht noch in die Moschee und betet. Ab und an meldet er sich noch bei seinen Beratern. Manchmal, weil er doch noch eine Frage hat. Manchmal schickt er aber auch nur ein Foto von der Arbeit. Mückes Organisation arbeitet mit mehr als 100 jungen Menschen aus der salafistischen Szene. Bei den meisten ist es nicht leicht, zu entscheiden, wann der Fall abgeschlossen ist. Klar, irgendwann hat man das Gefühl, der Jugendliche hat begriffen, welch radikaler Mist ihm eingetrichtert worden ist. Aber weiß man ganz genau, ob nicht ein paar Probleme oder ein paar neue falsche Freunde wieder alles zum Umkippen bringen? Über Mehmet sagt Mücke trotzdem einen Satz, und schickt voraus, dass man den nicht oft von ihm höre: „Von dem geht absolut keine Gefahr mehr aus.“ 

 

Mehmet hat ziemliches Glück gehabt. Er war in einem Kriegsgebiet, nur einen Schritt davon entfernt, in einer der brutalsten, grausamsten Kampfzonen der Welt sein Leben zu verlieren. Aber er hat rechtzeitig gemerkt, dass er einen Fehler macht, und er hatte das Glück, dass Menschen bereit standen, um ihm zu helfen, als er er den Reset-Knopf drücken wollte. Beides ist leider nicht immer der Fall. Viele Syrien-Ausreiser und Ausreisewillige erkennen die Gefahr und den radikalen Wahnsinn nicht und blocken alles ab. Viele können nicht auf eine Familie setzen, die alles tut, um zu helfen. An viele kommt man gar nicht erst ran, es ist oft unmöglich, sie auch nur anzusprechen. Mehmet und seine Familie haben die Hölle hinter sich. Und doch sagt Thomas Mücke: „Eigentlich war Mehmet eher ein einfacher Fall.“

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