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"Heute können wir unsere Neurosen viel besser ausleben"

Foto: Francesca Schellhaas/ photocase

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"Beziehungsunfähig" seien wir, sagen viele, chronisch unverbindlich und deshalb unglücklich. Aber gibt es das überhaupt: beziehungsunfähig? Und falls ja, wer ist das wirklich? In einer Serie suchen wir nach Antworten.

Die Psychologin Stefanie Stahl beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Beziehungsproblemen – in drei Büchern ("Vom Jein zum Ja" oder "Das Kind in Dir muss Heimat finden") und mit vielen Klienten in ihrer Trierer Praxis. Ein Interview.  

jetzt: Liebe Frau Stahl, ich würde gerne mit Ihnen über Beziehungsunfähigkeit sprechen. 

Stefanie Stahl: Sie sind bestimmt über diesen Michael Nast auf mich gekommen!

Das stimmt, ja. Über den haben wir auch geschrieben.

Wissen Sie, was mich an Herrn Nast wirklich ärgert? Wenn der ansatzweise seriös wäre, hätte er mich schon längst kontaktiert. Ich bin wirklich die Expertin zu seinem Thema. Er wirft sehr viele Fragen auf. Die könnte ich ihm alle beantworten. Er soll nicht so tun, als gäbe es keine Antworten darauf. 

Haben Sie denn sein Buch "Generation Beziehungsunfähig" gelesen?

 

Ja. Und mich wundert der Erfolg nicht. Menschen hatten schon immer Probleme mit ihren Beziehungen. Das hat auch nichts mit der Generation zu tun, auch wenn das momentan jeder nachplappert.

 

Wir sind gar nicht besonders schlimm?

 

Ich bin Jahrgang 1963, und ich finde: Die Jugend heute ist sehr spießig im Vergleich zu uns. Die binden sich früh und bleiben ewig zusammen. Weil Bindung in einer unsicheren Welt vielleicht wichtiger geworden ist. Wenn, dann ist das die "Generation Beziehungsfähig". Aber an sich ist das alles nichts neues. 

 

Wie bitte? Das mit dem Beziehunsunglück war schon immer so?

 

Es heißt immer: Unsere Zeit oder "die Gesellschaft" produzieren "Beziehungsunfähige". Ich glaube das nicht! Die Forschung geht davon aus, dass 30 bis 40 Prozent der Menschen einen sogenannten "unsicheren Bindungsstil" haben. Und meiner Ansicht nach ist diese Zahl konstant. Das hat nichts mit dem Alter oder der Generation zu tun.

 

Früher war nichts besser, also die Menschen nicht genügsamer?

 

Ganz früher hatte man nur ein engeres gesellschaftliches Korsett. Man hat die Konflikte weniger gesehen – und nie darüber gesprochen. Nur weil man zusammenblieb, in mitunter schlimmen Ehen, war man ja nicht fähiger. Heute können die Menschen ihre Neurosen viel freier ausleben.

 

Und sind deswegen beziehungsunfähig?

 

Nein. Sie haben nur Probleme mit Beziehungen. Entweder, indem sie Nähe vermeiden, also "bindungsängstlich" sind. Was nicht bedeutet, dass sie sich gar nicht binden. Es gibt zum Beispiel auch Ehen, die ausgesprochen bindungsängstliche Strukturen haben. Eigentlich meint der Begriff nur, dass ich innerhalb der Beziehung für Distanz sorge. Oder ich mache eben wieder Schluss. Vielen On-Off-Beziehungen liegt Bindungsangst zu Grunde.

 

Und die anderen suchen zu viel Nähe?

 

Genau, die anderen "klammern". Die meisten Menschen sind sogar beides: bindungsängstlich und bindungssüchtig. Je nach Phase der Beziehung und wie sicher sie sich des Partners sind. Ein und derselbe Mensch kann, wenn er seinen Partner noch an sich binden muss, unheimlich klammern. Und dann, wenn er den Partner "sicher" hat, vor dessen Nähe flüchten. Erst ist er oder sie der Jäger, dann zieht er sich zurück. Deswegen sprechen wir auch von "aktiver" und "passiver" Bindungsangst. Diese Rollen wechseln. Und bevor Sie das jetzt fragen: Nein, das taugt weder als Generationenmerkmal, noch ist es eine „Krankheit“. Jeder sehnt sich grundsätzlich einfach nach dem einen Partner fürs Leben. Und deswegen leiden die Leute.

 

So einfach ist das?

 

Ja. Die passiven Partner werden von den Aktiven verletzt, die Aktiven verzweifeln an sich selbst und den gescheiterten Beziehungen. Dabei ist am Anfang alles ganz leidenschaftlich – und dann sind die Gefühle auf einmal weg. Vollbremsung! Und zwar meistens an einer Stufe zu mehr Verbindlichkeit, wenn man offiziell  "zusammen" ist oder zusammenziehen oder gar heiraten will. Dann braucht einer plötzlich seinen "persönlichen Freiraum". 

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Was steckt dahinter, wenn jemand flüchtet?

 

Erstens: Verlustangst. Denn wenn ich mich auf den anderen einlasse, kann ich verletzt werden. Also lasse ich mich gar nicht erst ein. Zweitens: Erwartungen. Weil ich als Kind gelernt habe, dass die Liebe, in dem Fall der Eltern, an zu viele Bedingungen geknüpft ist. Das betrifft "Erwartungsphobiker", die Angst davor haben, jetzt so sein zu müssen, wie der Partner es eben erwartet. Statt "mein eigenes Ding" machen zu können.

 

Die Ursachen liegen also in der Kindheit?

 

Ja, als tiefe Programmierungen, als Glaubenssätze. Zum Beispiel: "Für eine Bindung muss ich mich verbiegen". Oder: "Ich kann nur ohne Bindung wirklich frei sein". Darunter liegen noch tiefere Prägungen. Ein ganz grundsätzliches: “Ich genüge“. Oder eben: "Ich genüge nicht".  Die Lösung ist, im tiefsten Inneren zu spüren, dass die Unfreiheit nur in meinem Kopf ist.   

 

Wen erwischen diese Programmierungen?

 

Menschen, die sich schwer abgrenzen können – und zwar innerlich. Und deswegen Angst haben vor Vereinnahmung. Die suchen die äußere Abgrenzung. Da wird das Einziehen in eine gemeinsame Wohnung abgewehrt wie eine feindliche Invasion. Weil sie es eben so empfinden. Wie der Typ in einem Kapitel von Nast, der sich gegen seine dominante Frau nicht durchsetzen kann. Und sich anpasst, aber innerlich zurückzieht. Bis er die Beziehung beenden will. Da denke ich: Ja, du Pappnase! Setzt dich halt mal durch, mit Arsch in der Hose. Dann wäre auch deine Beziehung besser. 

 

Der hat Beziehungsangst?

 

Genau, das ist der klassische Maurer. Je mehr er sich zurückzieht, desto hysterischer wird die Frau, desto mehr zieht er sich zurück. Verstehen Sie das alles, was ich sage?

 

Ich glaube schon. Was haben denn Kinder anders erfahren, die nicht diese Ängste haben?

 

Die haben mehr Sicherheit erfahren, mehr garantierte Liebe. Daher können sie Vertrauen in eine Liebe und einen Partner haben. Bindungsängstliche denken: So wie ich wirklich bin, kann mich keiner lieben. Und ziehen eine Show ab. Das fühlt sich auf Dauer anstrengend an. Unfrei. Jemand, der bindungsfähiger ist, hat gespürt, dass beides geht: Liebe und Freiraum. 

 

Darauf kommt es also an: Liebe und Freiheit?

 

Wir haben erstens ein existenzielles Grundbedürfnis nach Liebe und Bindung. Ohne sterben wir. Und zweitens eines nach Autonomie und Freiheit. Unsere ganze Entwicklung geht von Bindung – im Mutterleib, an der Nabelschnur, dann die "Ent-Bindung" – über komplette Abhängigkeit von den Eltern in der Frühkindheit hin zu immer mehr Autonomie. Erst krabbeln, dann laufen, dann sprechen wir. Bei Menschen, die Probleme mit Bindungen haben, wurde eins der beiden, oft auch beide Bedürfnisse durch die Eltern frustriert. Zu wenig Liebe – dann denken sie: "Bindungen sind schmerzhaft". Zu wenig Autonomie,  zu viel Liebe: "Bindungen sind vereinnahmend. Da werde ich zerquetscht".  All das nehmen sie mit in ihre erwachsenen Beziehungen. Das kann nicht klappen. 

 

Liegt das nur an der Erziehung?

 

Ich mache das jetzt seit 23 Jahren. Bei fast allen meinen Klienten gibt es einen roten Faden zurück in die Kindheit. Wobei Genetik auch eine Rolle spielt. Die einen sind dafür anfälliger, die anderen nicht. Es gibt auch Leute mit katastrophaler Kindheit, die Beziehungen können. Aber die richtige Mischung aus Geborgenheit und Freiraum ist grundsätzlich wichtig.

 

Was kann man da machen?

 

Reflexion. Wenn einem diese unbewussten psychischen Programme bewusst werden, kann man sie verändern. Aber leider laufen die meisten Menschen mit Bindungsangst durch die Welt und sagen: Ich habe noch nicht den oder die Richtige gefunden. Mit Anfang 40, nach lauter gescheiterten Beziehungen, kommen sie dann auf die Idee: Vielleicht hat es auch was mit mir zu tun. 

Und dann kommen sie zu ihnen.

 

Meistens lesen die meine Bücher und sagen: "Verdammt, das bin ja ich"! Andere merken das nicht, die steigen mit dem Muster ins Grab. Und haben immer noch nicht "die Richtige" gefunden.

 

Und was genau erarbeiten Sie mit ihren Klienten?

 

Ihr inneres psychisches Programm. Ihr "Schattenkind". Das ist meine Metapher für die negativen psychischen Prägungen, die sie bekommen haben. Damit sie verstehen, wie sie in Beziehungen ticken. Das ist ja alles eine Software, die falsch programmiert ist, und an der Nutzeroberfläche stört. Die Betroffenen sehen den Desktop, verstehen die Software aber nicht. Die muss man neu aufspielen. 

 

Und dann kann man sie neu programmieren?

 

Ja. 80 bis 90 Prozent der Leute, die zu mir kommen, geht es danach entscheidend besser. Wenn sie wirklich sagen: Ich will raus aus der Nummer. Wenn sie Verantwortung übernehmen für ihre Neurosen und aktiv mitmachen. Diejenigen, die erwarten, dass ich sie "erlöse", bei denen wird es zäh. Wenn man immer nur bei der Lehrerin in der Stunde Klavier übt, wird man nie besser. 

 

Das Schattenkind wird neu erzogen?

 

Es verliert die Macht über mein gegenwärtiges Ich. Man lernt: Das ist nur das Kind in mir. Ich bin aber groß. Ich kann selber entscheiden. 

Mehr zum Thema Beziehungsunfähigkeit hier: 

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